„Die revolutionäre Volksbewegung entwickelt sich lawinenartig“

Interview mit einem marxistisch-leninistischen Freund aus Marokko über die Ereignisse in Tunesien (Teil 2)

Der erste Teil des Interviews erschien unter dem Titel „Das Regime steigerte seine Repression gegen das Volk und der Zorn der Massen wurde immer schärfer“ in der letzten „Roten Fahne“.

Wie hat sich die Situation nach dem 14. Januar in Tunesien entwickelt?

Ich vergleiche sie in gewisser Weise mit der bürgerlich-demokratischen Februar-Revolution in Russland 1917 ein halbes Jahr vor der Oktoberrevolution. Jetzt bilden sich zwei Gegenkräfte heraus, die miteinander ringen. Die revolutionäre Bewegung der Massen und die konterrevolutionäre Bewegung der Herrschenden.
An jedem Ort organisieren sich die Menschen in revolutionären Komitees (das kann man auch als Revolutionsräte bezeichnen). Diese Komitees wollen zusammen arbeiten. Einige örtliche Komitees fordern die Einberufung regionaler revolutionärer Komitees. Aus diesen soll sich dann ein nationales revolutionäres Komitee an der Spitze bilden. Dies soll dann die revolutionäre Regierung wählen. Die Komitees in den Städten und Dörfern umfassen alle Schichten: Arbeiter, Bauern, Intellektuelle, Rechtsanwälte, Ärzte, Händler, usw. Sie beginnen, die Versorgung zu organisieren. Erste Rufe nach Bewaffnung der Bevölkerung sind laut geworden, um sich vor Polizei- und Armeeübergriffen zu schützen.


Wie verhält sich die Armee?

Die Armee hatte sich vor dem Sturz von Ben Ali herausgehalten. Viele Soldaten sympathisierten mit der Bevölkerung. Die Polizei war zahlenmäßig größer als die Armee. Das hat sich geändert. Führende Polizeikräfte sind verhaftet. General Rachid Amar hat das Oberkommando. Er wurde mal von Ben Ali entlassen. Deshalb darf er nun die Rolle als „ehemaliger Widerständler“ spielen. Er hatte sich unmittelbar vor der Flucht von Ben Ali zusammen mit dem amerikanischen Botschafter in Tunis bemüht, dessen Aufnahme in Frankreich zu organisieren.

Die Herrschenden sind also in der Defensive?

Ja, aber die Kompradoren wollen ihre Herrschaft in neuer Form weiterführen. Das darf man nicht unterschätzen. An die Spitze hat sich jetzt Premierminister Mohammed Gannouchi, unterstützt vom Übergangspräsident Fouad Mbazaa,  gestellt. Sie sollen Neuwahlen nach zwei Monaten vorbereiten. Beide sind Galionsfiguren, stammen aus dem Führungskreis von Ben Ali und erhalten jetzt auch die Unterstützung des imperialistischen Auslands.
Um die Massen zu hintergehen, haben sie die Partei Ben Alis, die RCD, offiziell verlassen (Anm. der Red.: Die RCD war Mitglied der „Sozialistischen Internationale“ und hat darüber Unterstützung von allen sozialdemokratischen Parteien, vor allem der französischen und der SPD in Deutschland erhalten. Erst nach dem 14. Januar wurde die RCD aus der „Sozialistischen Internationale“ ausgeschlossen).
Aber die Massen lassen sich nicht mehr so leicht täuschen. Sie stellen weitergehende Forderungen nach Auflösung der RCD und haben viele von deren Parteibüros besetzt.

Welche Chancen und welche Gefahren für die demokratische Volkserhebung siehst du?

Die Zeit drängt. Beide Bewegungen werden letztlich auf eine Zuspitzung hinauslaufen. Entweder etabliert sich die
alte herrschende Klasse mit Rückendeckung der Imperialisten, vor allem der EU, oder die revolutionären Komitees festigen sich. Wer schneller und stärker ist, der gewinnt. Der revolutionäre Wille der Massen ist beeindruckend. Sie haben auch eine wichtige Unterstützung von den Massen in allen Ländern des Maghreb sowie im ganzen Nahen und Mittleren Osten. Das Selbstbewusstsein entwickelt sich jetzt enorm.
Die revolutionäre Volksbewegung entwickelt sich lawinenartig. Sprunghaft steigert sich die Organisiertheit. In den revolutionären Komitees finden jetzt sehr intensive und auch heftige Auseinandersetzungen statt. Es gibt keine Partei und Strömung, die dominiert. Da sind Leute in der ganzen Bandbreite der Linken und Revolutionäre drin: Von Sozialdemokraten, Anarchisten, Trotzkisten bis hin zu solchen, die sich Maoisten und Marxisten-Leninisten nennen. Der Aufbau einer revolutionären Partei steht noch in den Neuanfängen. Es gibt Gruppen und Zirkel im Land, die sich auf den Marxismus-Leninismus berufen. Einige haben am 14. Januar eine Koalition gebildet und am 20. Januar eine gemeinsame Erklärung herausgegeben. Die größte Gefahr besteht darin, dass die Schnelligkeit des Aufschwungs der revolutionären Massenbewegung und die daraus resultierenden politischen und organisatorischen Aufgaben den marxistisch-leninistischen Kräften über den Kopf wachsen. Als 1917 die Bolschewiki gesiegt haben, hatten sie eine große breite revolutionäre Unterstützung in revolutionären Kämpfen auf der Welt. Das war in dem Moment ein ganz entscheidender Rückhalt.
Die kämpfenden Massen in Tunesien brauchen die Solidarität und aktive Hilfe der internationalen Arbeiterklasse. Die ICOR hat hier eine ganz wichtige  Aufgabe ...

Vielen Dank für das Gespräch!

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