Jelly-Belly-Wonderland

Sie zerquetscht mir fast mein linkes Ohr. Wenn sie jemanden umarmt, dann richtig. Es dauert noch ein paar endlose Sekunden, bis sich ihre Schraubstockumarmung wieder lockert. Erleichtert greife ich an mein Ohr und spür’, dass es noch ganz ist. Sie lächelt mich mit ihrem perfekten Gebiss an. „Ich kann’s nicht fassen, dich wiederzusehen. Warum haben wir uns seit der Schule nicht mehr getroffen? Ich fass’ es nicht! Du siehst toll aus.“

Mein Ohr ist ganz heiß und pocht unangenehm. „Und du erst. Richtig schick siehst du aus“, sage ich und mein’ das auch so. „Ja, das liegt an meinem Job“, antwortet sie und über den redet sie fast zehn Minuten lang. „Ach, jetzt red’ ich die ganze Zeit von mir. Erzähl doch selber mal … was sagst du denn zu dem Werbeplakat da drüben? Das hab’ ich entworfen …“ Ich wollte ihr eigentlich gerade einen Flyer zum Internationalen Weltfrauentag geben, aber irgendwie kommt mir das Ganze plötzlich so komisch vor.

Da steht dieser verrückte Paradiesvogel vor mir, der fünf Jahre neben mir die Schulbank drückte und sieht einfach toll aus. Jedes Detail ihrer Klamotten, jedes Accessoire sitzt und das eine passt farblich zum andern. Während sie noch plappert, huschen ihre Blicke auf den Flyer in meiner Hand. „Nee, oder?“ Ihre angemalten Lippen verziehen sich leicht spöttisch. „Für die Befreiung der Frau? Ist das dein Ernst?“ Ich beschließe, mich jetzt nicht in eine Ecke drängen zu lassen. Ich strecke ihr den Flyer entgegen. „Ist mein voller Ernst.“ Sie überfliegt die ersten Zeilen, dann lässt sie den Zettel wieder sinken. „Ach komm schon, wir sind doch beide selbstbewusst und lassen uns ganz bestimmt nicht unterdrücken und schon gar nicht doppelt ausbeuten.“

Wir verabreden uns für später am Abend und treffen uns in einer Bar. Sie ist noch aufgebrezelter als vorher und zieht mit ihrem kurzen Rock die Blicke auf sich. Während wir uns unterhalten, zupft sie ruhelos entweder an ihren Haaren oder an meiner Jacke herum. Ihre langen Nägel klappern auf der Theke. Sie bestellt sich einen Sweet Wonderland Breeze-Jelly-Belly oder so ähnlich und als ich sage, dass ich ein Bier will, schüttelt sie die Mähne. „So wie früher. Immer tanzt du aus der Reihe.“ Ich schau sie verständnislos an. „Warum tanz’eich denn … mit meinem Bier … aus der Reihe?“ „Na ja, schau dich mal um. Welche Frau trinkt hier Bier? Die meisten doch eher Cocktails.“ Ich zucke mit den Achseln. Langsam wird mir das zu blöd. Sie tätschelt mir beschwichtigend den Arm. „Weißt du, mir ist egal, was andere über mich denken“, sagt sie mit einer Kopfbewegung, die ich mal in irgendeinem Film gesehen habe. Ihre Augen kneift sie katzenhaft zusammen. „Ich mach’, was ich will und ich muss nicht befreit werden. Und wenn ein Typ meint, er könnte mich unterdrücken oder ausbeuten, dann zeige ich ihm die Tür. So einfach ist das.“

Ihr Handy klingelt so laut, dass es sogar die Musik in der Bar übertönt. Sie klappt es elegant mit ihrem Daumennagel auf und presst es ans Ohr. „Jaaa?“ Ihr Gesicht verhärtet sich. „Oh, Herr Fröbel … ja, ich höre.“ Sie lauscht angespannt und nickt dabei. „Ja, natürlich. Ich habe heut Zeit … ja … aber natürlich, der Job geht vor!“ Als sie auflegt, schaut sie etwas unglücklich drein. „Mein Chef … ich soll heute noch mal ein paar Stunden arbeiten, weil ein neuer Auftrag reingekommen ist. Das geht schon seit ein paar Monaten so.“ „Und der Herr Fröbel ist grade der einzige Mann in deinem Leben?“, frage ich nebenbei. Sie zieht die Augenbrauen hoch. „Ähm … ja, woher weißt du das?“ Ich hebe die Schultern. Sie macht eine wegwischende Handbewegung. „Ach, meine letzte Beziehung ist kaputt gegangen“, fährt sie fort „… weil er damit nicht klar kam, dass ich so lange im Büro sein muss.“ Sie schüttelt missbilligend den Kopf und seufzt: „Männer! Ich sag’s dir. Denen wäre es lieber, man würde den ganzen Tag auf der Couch auf sie warten.“

Ihre Augen wirken auf einmal traurig und niedergeschlagen. Sie steht abrupt auf, packt ihren Mantel, quetscht wieder endlos lange mein Ohr zusammen und klagt: „I’m so sorry, Mäuschen. Muss leider los jetzt … aber wir wiederholen das hier, nicht wahr? Und dann reden wir endlich mal über alte Zeiten und du erzählst mir, wie wir Frauen die Welt erobern und so weiter …“

Sie blinzelt mich an und ich stopfe ihr als Antwort einen der Frauentags-Flyer in die Manteltasche. „Du hast ja meine Nummer, nicht wahr, Schätzchen? Oh, schon wieder so spät … ich …“ der Rest ihrer Worte wird von ihrem Handyklingelton verschluckt und sie eilt aus der Bar. Ihr Jelly-Belly-Dingsbums-Cocktail steht noch unberührt auf der Theke. Ich kühle mir damit mein pochendes Ohr und schaue ihr nachdenklich hinterher.

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