Marokko ist ein Pulverfass

Marokko ist ein Pulverfass

20. Februar 2011 - Proteste in Casa Maroc

„Rote-Fahne“-Interview mit einem Freund aus Marokko

Marokko ist ein Pulverfass, davon hören und lesen wir in Deutschland in den Massenmedien nichts?
Die imperialistischen Massenmedien sind Hofberichterstatter der Imperialisten. Deshalb bekommt ihr auch in Deutschland keine wirklichen Berichte und Meldungen über die Volksbewegungen in Nordafrika, sondern nur das vorgesetzt, was den Herrschenden zur Manipulation der öffentlichen Meinung in den Kram passt. Sie schützen die diktatorischen Regimes, die in ihrem Auftrag Menschenrechte mit Füßen treten. In Marokko entfaltet sich derzeit eine Auseinandersetzung, die möglicherweise schon in den nächsten Wochen auf eine Zuspitzung hinausläuft. Ich schätze das als eine „prärevolutionäre Situation“ ein. Sie hat eine lange Vorgeschichte.
In den drei Jahrzehnten von 1960 bis 1990 gab es wiederholt  Aufstände in den großen Städten. Diese wurden von den Herrschenden mit brutaler Gewalt niedergeschlagen. Es gelang dem Königshaus, alle bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien auf seine Linie zu bringen. Revolutionäre wurden in das Gefängnis geworfen. Es gab Marxisten-Lenisten, die ihre revolutionären Grundsätze über Bord geworfen haben und zu Revisionisten wurden. Zugleich wurden Islamisten gefördert. Wir nennen deshalb diesen Zeitabschnitt die „bleierne Zeit“.

Die Phase der „bleiernen Zeit“ wurde dann überwunden?
Ja, zum Zeitpunkt des Falls der Berliner Mauer und des Zerfalls der Sowjetunion entstand in den Städten eine „Bewegung der diplomierten Arbeitslosen“. Das waren Jugendliche mit höherer Schulbildung   und Studenten. Diese Bewegung entstand an den Universitäten. Es waren vor allem junge Absolventen aus Arbeiterfamilien, aus denen sich wiederum ein Teil zu Revolutionären entwickelten, die sich dem Marxismus-Leninismus zuwandten. Sie begannen eine Kleinarbeit unter den Massen und organisierten Demonstrationen, Kundgebungen usw.. Sie haben praktisch die „Straße wieder zurückerobert“.
Die Antwort der Reaktion war verschärfte Repression. Aber ab den 2000er Jahren breitete sich diese kleine Bewegung enorm aus und erfasste Kleinbauern, die gegen die Enteignung ihrer Ländereien kämpften, Slumbewohner, die  Arbeitsplätze zum Leben forderten, Frauen, die für ihre Rechte eintraten. Es entstanden auch Initiativen für Menschenrechte. All diese Bewegungen, die zunehmend Mut fassten, vernetzten sich gegenseitig und bildeten Bündnisse. Es gelang den Marxisten-Leninisten, die gezwungen waren, im Untergrund zu arbeiten, sich schrittweise in den Städten und auch auf dem Lande zu verankern. Auf der anderen Seite bekamen die bürgerlichen Parteien, die sich mit dem Regime arrangierten und sich allenfalls auf einzelne Reformen beschränkten, mehr Spielraum.
Im Jahr 2006 war ein erster Höhepunkt der Kämpfe gegen hohe Lebenshaltungskosten und Hunger. Der Hintergrund war die neoliberale Politik des Königs, der das Land im Auftrag des internationalen Finanzkapitals für Kapitalanlagen öffnete. Es gab eine Welle von Privatisierungen staatlicher Betriebe und Einrichtungen und auf der anderen Seite einen rigiden Abbau sozialer Leistungen, die sich für die Bevölkerung sehr drastisch im Gesundheits- und Bildungswesen auswirkten. Deshalb hat es in dem Jahrzehnt von 2000 bis 2010 immer wieder heftige Proteste und Kämpfe, vor allem an sozialen Fragen, gegeben. Wie gesagt, 2006 war ein bedeutendes Jahr in der Entwicklung dieser Massenkämpfe. Seitdem gab es in 80 bis 90 Städten des Landes immer wieder Demonstration und Kundgebungen, die lange Zeit vorwiegend ökonomischen Inhalt hatten.

Welche Rolle spielte die revolutionäre Gärung im Mittelmeerraum?
Die Aufstandsbewegung in Tunesien und Ägypten um den Jahreswechsel 2010/2011 war auch ein Signal in unserem Land. Die Bewegung der „diplomierten Arbeitslosen“ hat mit Unterstützung der Marxisten-Leninisten über „Facebook“ Aufrufe für einen landesweiten Massenkampf am 27. Februar nach Vorbild dieser Länder initiiert. Die Sozialdemokraten haben das unterstützt, allerdings auf einen anderen Termin gedrängt und den 20. Februar vorgeschlagen. Man muss wissen, der 27. Februar ist der Gründungstag der Befreiungsbewegung „Polisario“ in der Westsahara. Diese wird von Marokko als Kolonie ausgebeutet und ihr nationales Selbstbestimmungsrecht wird verweigert. Dieser Zusammenhang ist bekannt und die Sozialdemokraten wollten nicht, dass er in das Bewusstsein der Massen rückt. Daher kam es dann zum 20. Februar. Die landesweiten Demonstrationen mit mindestens 800.000 Teilnehmern waren ein großer Erfolg. Aber sie verliefen sehr widersprüchlich. Dort wo sie in den Zentren von kleinbürgerlichen Kräften und bürgerlichen Parteien, vor allem der Sozialdemokratie, organisiert waren, verliefen sie friedlich ohne Eingreifen des Staatsapparates. In der Peripherie unter Arbeitern, Kleinbauern und Slumbewohnern, wo die Marxisten-Leninisten größeren Einfluss hatten, ging die Polizei brutal vor. Fünf Menschen wurden ermordet. Damals waren vor allem Polizisten eingesetzt. Monate später kamen auch Spezialeinheiten in Polizeiuniform dazu. Diese wurden etwa im April/Mai von US-Amerikanern im Süden des Landes  für den Straßenkampf und zur Eliminierung führender Aktivisten des Volkswiderstands ausgebildet. Das sickerte durch, als einige US-Soldaten desertierten.
Seit dem 20. Februar gibt es in jedem Monat große Demonstrationen mit insgesamt über einer Million Teilnehmern in rund 110 Städten. Allein in Tanger sind es 200.000 bis 300.000. Jeden Sonntag finden in den Abendstunden Demonstrationen in 50 bis 80 Städten statt. Im letzten Monat bei Ramadan fanden sie nachts statt. Der König musste reagieren, was er in seiner Rede vom 9. März auch tat. Darauf werde ich nachher eingehen.

Kannst du uns die „Bewegung vom 20. Februar“ näher erläutern?
In der „Bewegung vom 20. Februar“ bildeten sich zwei hauptsächliche Strömungen heraus: Die unter dem Einfluss der Sozialdemokratie tritt für eine parlamentarische Monarchie ein. Sie tastet nicht das Regime an, will ihm lediglich bestimmte demokratische Rechte abtrotzen. Dagegen tritt die revolutionäre Strömung unter maßgebendem Einfluss der Marxisten-Leninisten für das Ziel einer Demokratischen Volksrepublik Marokko ein, was den Sturz des monarchistischen Systems erfordert. Es gibt allerdings auch islamistische Kräfte, die ein Regime ähnlich der Taliban anstreben.
Aus dem „20. Februar“ ging eine Initiative hervor, die sich mit den Volksbewegungen in den arabischen Ländern verbinden und die enge Solidarität organisieren wollte. Es kam ein „Nationalrat“ zustande mit verschiedenen Kommissionen, die auch konkrete Hilfe und Unterstützung organisieren:  Ärzteteams, Rechtsanwälte, Pressearbeit usw. In dem Nationalrat sind Sozialdemokraten, Gewerkschafter, Einzelpersonen, Menschenrechtsvertreter usw. Auch Islamisten sind mit einbezogen worden. Marxisten-Leninisten, die ja nach wie vor verboten sind, konzentrieren sich auf die Kleinarbeit und Massenmobilisierung im ganzen Land.
Die „Bewegung vom 20. Februar“ ist inzwischen landesweit. Gegen die Bewegung hat der König verschiedene Maßnahmen ergriffen. Er macht Zugeständnisse zur Beruhigung und bereitet Maßnahmen zur blutigen Konterrevolution vor. Kriminelle werden aus dem Gefängnis entlassen und in die Bewegung eingeschleust, die als Provokateure auftreten und Aktivisten ermorden sollen. Der Bombenanschlag in Marakesch am 29. April wurde vom Geheimdienst inszeniert, um ihn den Revolutionären in die Schuhe zu schieben und die Bewegung des 20. Februar zu spalten. Wir wissen aus den 1960er Jahren, dass es einen mit dem US-Geheimdienst abgestimmten „Plan Phoenix“ gab. Der sah vor, alle Revolutionäre zu eliminieren. Der soll wieder aufgelegt werden. Auch das wissen wir von desertierten US-Soldaten.

Du hast auch von „Zugeständnissen“ gesprochen?
In seiner Rede vom 9. März hat König Mohammed VI. ein Referendum zur Verfassungsänderung angekündigt. Dazu wurde eine Kommission eingesetzt. Wir haben verlangt, dass ihre Mitglieder gewählt werden sollen. Der König ignorierte das und setzte ihm genehme Leute ein. Die Arbeit der Kommission war im Juni/Juli beendet. Dann wurde eine Volksabstimmung gemacht. Diese ist eine Farce von Demokratie. Von 25 Millionen Wahlberechtigten wurden nur 9 Millionen in die Wahllisten eingetragen. Und von diesen haben schätzungsweise sich etwa 4 Millionen beteiligt. Natürlich kam eine Zustimmung von 90 Prozent heraus. Man muss vorher in einer Liste eingetragen sein. Die Stimme von jenen, die die Wahl boykottierten, wurde anderen zugeschoben. Es durften sogar auch Kinder für ihre Eltern abstimmen unter fadenscheinigen Gründen. Weil sie lesen konnten. Sie bekamen dafür auch Geld. Die „neue Verfassung“ ist so konstruiert, dass der König den Vorsitz über sämtliche sogenannte demokratischen Einrichtungen hat. Er ist an der Spitze des Ministerrats und kann das Parlament überstimmen oder auflösen. Er ist oberster Richter und kann einen Verurteilten begnadigen. Er ist oberster Armeeführer, Vorsitzender des Sicherheitsrates (Polizei, Geheimdienst) und auf religiösem Gebiet der „Prinz der Gläubigen.“  

Was müssen wir in den kommenden Wochen erwarten?
Am 25. November sollen die ersten Wahlen auf der Grundlage dieser Verfassung stattfinden. Bis dahin werden noch drei landesweite Massenaktionen stattfinden: am 17. September, wenn ihr in Berlin gegen eure Regierung demonstriert, am 17. Oktober, dem Welttag der Armut, und am 20. November, fünf Tage vor der Wahl. Die Mehrheit der Bevölkerung lehnt die Verfassung ab. Die sozialdemokratische Richtung mobilisiert für eine parlamentarische Monarchie, die revolutionäre Strömung propagiert eine grundsätzliche Lösung, für einen Weg zum Sozialismus, der nur über den Sturz des herrschenden Regimes und die Errichtung einer wahren Volksdemokratie führen kann. Es steht uns eine spannende Zeit bevor.

Vielen Dank für das Gespräch und revolutionäre Grüße aus Deutschland nach Marokko!

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