Stuttgart: „Ihr werdet uns nicht los – wir euch schon“

Stuttgart: „Ihr werdet uns nicht los – wir euch schon“

Kundgebung gegen „Stuttgart 21“ am 21.1.12 – rf-foto

Stuttgart (Korrespondenz): Der Südflügel fällt – wie eine Siegesmeldung bringt es die „Stuttgarter Zeitung“ und lügt: „… kaum einer protestiert“. Am selben Abend, bei der 109. Montagsdemo am 6. Februar, waren es wieder über 4.000 Menschen, die mit Trommeln und Pfeifen durch die Bahnhofshalle und anschließend unangemeldet in die Stadt zogen. Die Leute sind wütend auf Kretschmann. Im Widerstand macht das Wort vom „grünen Verrat“ die Runde.
Über die Rolle von Kretschmann, den Grünen in der Regierung, über die Instrumente der bürgerlichen Demokratie und über die neue „Bürgerbeteiligung“ hat eine Auseinandersetzung und ein Lernprozess eingesetzt. Kretschmann, der erste grüne Ministerpräsident, setzt ein für die Bevölkerung sinnloses, aber profitbringendes Großprojekt durch, dessen Widerstandsbewegung über die Grenzen der Republik für Aufmerksamkeit gesorgt und ihn an die Regierung gebracht hat. Welch ein Irrwitz der Geschichte. Er lässt den Betreibern freie Hand und gibt seine Polizei obendrein. Mit dem Abriss und den Baumfällungen geht es einzig und allein darum, Fakten zu schaffen, Macht zu demonstrieren und uns zu zeigen: weiterer Widerstand zwecklos.
Kretschmann verschanzt sich hinter der Volksabstimmung: „… das ist jetzt Dialektik …, aber dazu gehört auch, dass man in der Demokratie, wenn man verloren hat, sich an das Votum der Mehrheit hält … es gibt kein Gesetz, das verbietet, für einen schlechten Bahnhof zu sein“. Aber die Bevölkerung hat in der Volksabstimmung nicht gesagt, sie wünsche eine Verschlechterung der Verkehrsverbindungen. Mehrere Ortsverbände der Grünen kritisieren Kretschmann heftig dafür, dass er die Verantwortung für den eigenen Kurswechsel „dem Volk“ zuschiebt. Andere pochen auf die Einhaltung von Wahlversprechen wie z. B.: „… werde keine Bauruine zulassen, weil später das Geld fehlt, also Kostenklarheit vor Baubeginn.“ Der ehemalige Richter D. Reicherter klagt an, dass Kretschmann und Bahn einen von Geißlers Schlichtersprüchen sittenwidrig aushebeln, dass nur kranke Bäume gefällt werden dürften. Dazu hätte sich die Bahn verpflichtet, und nur so sei mit der Schlichtung eine Beruhigung des Widerstands gelungen.
In der Tat, jetzt beweist sich die Funktion der Schlichtung. Als die Grünen-Strategen in der Koalitionsvereinbarung mit der SPD die Volksabstimmung in Verbindung mit dem Thema Ausstiegskosten beschlossen haben, wussten sie bereits, dass diese wegen des Quorums nicht zu gewinnen ist. Die Projektbetreiber wussten auch die ganze Zeit aus Umfragen, dass die Zustimmung zu „S 21“ seit der Schlichtung stetig gestiegen ist. Von daher muss man es als eine bewusste Strategie der Grünen-Führung einordnen, dass mit der Volksabstimmung der Widerstand beendet werden sollte. Sonst könnte Kretschmann heute nicht sagen: „Wenn es ein unterirdisches Atomkraft gewesen wäre, dann wäre ich jetzt zurückgetreten“. Es ging ja „nur“ um den Bahnhof – und das will er durchstehen. Es ist genau so, wie die reaktionäre „Welt“ bereits kurz nach der Wahl schrieb: „Wenn jemand S 21 durchsetzt, dann Kretschmann“.
Viele Enttäuschte fragen, wen man überhaupt noch wählen kann. Schon taucht ein neuer „Hoffnungsträger“ am Horizont auf: Der Grünen-Abgeordnete Fritz Kuhn wird Kandidat für die OB-Wahl im Herbst in Stuttgart.
Die Aufarbeitung der Erfahrung, wie die Grünen die Position wechseln, kaum dass sie an der Regierung sind, muss tiefer gehen: Es ist offensichtlich, dass die Macht des Kapitals so weit geht, so ein Profitprojekt gegen alle Risiken, guten Argumente und demokratische Bestrebungen durchzusetzen. Das offenbart die gesellschaftliche Wirklichkeit: die allseitige Herrschaft des Kapitals. Die bürgerliche Demokratie billigt uns zwar Rechte wie das Demonstrationsrecht zu. Aber der bürgerliche Parlamentarismus erfüllt die Funktion der Verschleierung der Alleinherrschaft des Monopolkapitals.
Aber die Herrschenden haben es nicht mehr so leicht mit dem Volk. Es will mitreden, und zwar direkt. Da gibt es auch mal den Knüppel. Doch wer schon mal die Polizeigewalt mit Wasserwerfer, Reizgas und Knüppel erfahren durfte wie am 30. 9. 2011, dem geht das grundsätzliche Vertrauen in den Staat verloren. So bemühen sich die Herrschenden, verfeinerte Methoden der Absicherung ihrer Macht einzuführen. Dafür ist „S 21“ ein Lehrbeispiel mit Schlichtung, Wahlen, Stresstest und Volksabstimmung.
Unsere Wut muss sich insgesamt gegen die kapitalistischen Herrschaftsverhältnisse richten. „Ihr werdet uns nicht los – wir euch schon“ – diese Losung des Stuttgarter Widerstands bekommt so einen tieferen Sinn.

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