Die 62. Berlinale zollt dem Linkstrend Tribut
Zurzeit, vom 9. bis zum 19. Februar 2012, findet in Berlin die 62. Berlinale statt. Das inzwischen weltgrößte internationale Filmfestival geht auf die Initiative eines US-amerikanischen Filmoffiziers im Jahr 1950 zurück. Der damalige Gründungsausschuss gab dem Filmfest eine streng antikommunistische Ausrichtung: keine Beteiligung sozialistischer Länder. Die erste Berlinale fand vom 6. bis 18. Juni 1951 statt. Der Publikumsandrang war enorm. Walt Disneys „Cinderella“ gewann den Publikumspreis und einen Goldenen Bären.
Heuer weilen anlässlich der Berlinale 20.000 Filmleute in Berlin, es wurden (inklusive dem European Film Market) 6.712 Filme angemeldet, 60.000 Menschen mehr als sonst besuchen die Stadt, und das Land Berlin macht während der Festspiele 40 Millionen Umsatz. Hier macht die internationale Filmindustrie ihre Kassenschlager für das kommende Filmjahr. Aber außer Parties, Glamour, Starrummel und Geschäftemacherei gibt es auf der Berlinale auch jede Menge gutes Kino. Apropos Parties: auch hier ist das Filmvolk kritischer geworden. Der Film-Mäzen Christian Wulff kassierte auf seine Einladung zum Empfang im Schloss Bellevue am Sonntagabend fast 50 Prozent Absagen.
Dass die große Schauspielerin Meryl Streep auf der Berlinale den Goldenen Ehrenbären für ihr Lebenswerk ausgerechnet anlässlich ihres jüngsten Kinofilms bekommt – sie verkörpert in „The Iron Lady“ die reaktionäre Regierungschefin Margaret Thatcher – geht am Linkstrend glatt vorbei. Viele Filme und Programmbestandteile jedoch zollen dem enorm gewachsenen kapitalismuskritischen Bewusstsein der Menschen ihren Tribut. Neue Töne auch bei den Wettbewerben: Mike Leigh, der Präsident der Festival-Jury, hält es für unmöglich, einen Film künstlerisch zu beurteilen und dabei die gesellschaftliche Wirkung zu ignorieren. „Focus“ beschreibt den Trend so: „Protest, Aufstand, Flucht – die diesjährige Berlinale ist politischer denn je. Ob die arabische Revolte, die Occupy-Bewegung oder die Folgen des Atomdesasters in Japan – die Filmfestspiele in Berlin sind mit dutzenden Filmen auch ein Seismograph für globale Befindlichkeiten und Ängste. Die Handy-Szenen von den Straßen in Kairo und Tunis, die bedächtigen Aufnahmen rund um das Atomkraftwerk von Fukushima oder die Zeugnisse des Protests zwischen Athen und Wall Street beherrschen die Bilderflut. Im Wettbewerb und den Nebenreihen grassiert ein Fieber nach Realität, dem sich selbst Angelina Jolie mit ihrem Balkan-Drama ‚In The Land Of Blood And Honey‘ nicht entziehen konnte.“
Viele engagierte Filme haben die länderübergreifenden Kämpfe für Freiheit und Demokratie im Mittelmeerraum zum Thema, darunter „Reporting. A Revolution“, ein Dokumentarfilm über den Sturz von Hosni Mubarak, oder „Indignados“ („Die Empörten“) des in Algerien geborenen Regisseurs Tony Gatlif. Der Film über eine junge illegale Immigrantin aus Afrika, die sich von Griechenland nach Spanien durchschlägt, ist den Protestbewegungen verpflichtet, bekennt sich mit der Anlehnung an Stéphane Hessels „Empört euch!“ aber ausdrücklich dazu, im Rahmen des kapitalistischen Gesellschaftssystems zu verharren.
In dem mehrfach ausgezeichneten Dokumentarfilm „Granito“ beschreibt die amerikanische Filmemacherin Pamela Yates, wie es zum vor kurzem eröffneten Prozess gegen den früheren Diktator Efraín Ríos Montt in Guatemala wegen Völkermords an der Maya-Bevölkerung 1982/83 kam. Damals sind 15.000 Menschen massakriert und 440 Gemeinden vollständig ausgerottet worden. Material aus einem früheren Dokumentarfilm der gleichen Regisseurin („When the mountains tremble“) liefert Indizien in diesem Prozess.
Alljährlich gibt es auf der Berlinale eine Retrospektive, die jeweils einem bedeutenden Thema der internationalen Filmgeschichte gewidmet ist. Dieses Jahr zeigt die Berlinale in Kooperation mit dem Museum of Modern Art (MoMa) „Die rote Traumfabrik. Meschrabpom-Film und Prometheus 1921–1936“. Das Meschrabpom-Studio war die Filmabteilung der Massenorganisation Internationale Arbeiterhilfe (IAH), machte die russische Revolution in der Welt bekannt und diente der internationalen Solidarität mit der damals sozialistischen Sowjetunion. Im Rahmen der „roten Traumfabrik“ gibt es auf der Berlinale großartige revolutionäre Filme wie „Panzerkreuzer Potemkin“ von Sergej Eisenstein zu sehen und bisher nicht veröffentlichte Kompositionen von Hanns Eisler zu hören. Natürlich kann zu diesem bemerkenswerten Bestandteil der Berlinale die antikommunistische Begleitmusik nicht schweigen. So ätzt die „taz“ über die „ideologische Blindheit“ des Studios und Filmemacher Dominik Graf entblödet sich nicht, Eisenstein „Propaganda für die Terror-Diktatoren des zwanzigsten Jahrhunderts“ vorzuwerfen. Die Faszination, die von der „Roten Traumfabrik“ auf das Publikum ausgeht, kriegen sie nicht klein!