Südafrikas Bergarbeiter – der gefesselte Riese steht auf

Die Gewehrsalven, die am 16. August 34 streikende Bergarbeiter der Platinmine in Marikana töteten und über hundert verletzten, hallen heute noch in ganz Südafrika nach.

Seit dem brutalen Polizeimassaker haben sich die Kämpfe der Bergarbeiter ausgeweitet und politisieren sich immer mehr.
Die Hetze der Minenbesitzer und der Regierung gegen die Arbeiter von Marikana schlug ins Gegenteil um. Trauer, Wut und Solidarität im ganzen Land wachsen. Mordanklagen und Verhaftungen von 259 Kumpel mussten ausgesetzt werden. Um die Lage zu beruhigen, bot die Gesellschaft Lonmin den Arbeitern zunächst eine Lohnerhöhung um 900 auf insgesamt 5.500 Rand an. Die Arbeiter forderten eine Erhöhung von bisher durchschnittlich 4.500 auf 12.500 Rand. Während die Führung der Gewerkschaft NUM das Angebot annehmen wollte, lehnte die Mehrheit der Arbeiter ab (zur aktuellen Entwicklung siehe S.3). Trotz Erpressung und Androhung, dass jeder entlassen wird, der nicht zum Arbeiten geht, haben von 28.000 Arbeitern und Angestellten nur sechs Prozent die Arbeit angetreten. Die Arbeiter der Lonmin-Mine zogen in der Region von Schacht zu Schacht. Weitere Zechen, darunter auch im Goldbergbau, traten in den Streik. In der zweiten Septemberwoche waren es bereits über 60.000 Streikende. Eine große Zahl folgte einem selbständigen Marschaufruf nach Rustenberg. Daraufhin ließ Justizminister Jeff Radebe Lastwagen mit Soldaten in das Gebiet karren. Sie gingen mit Knüppeln und Tränengas gegen die Menschenmenge vor und trieben die Kumpel, ihre Frauen und Kinder in ihre Häuser, wo diese sich gegen weitere Übergriffe verschanzten.
Die selbständigen Streiks standen in Verbindung mit einer massenhaften Abwendung vom Einfluss der Regierung, die sich aus ANC, dem Gewerkschaftsdachverband COSATU und der revisionistischen Kommunistischen Partei Südafrikas zusammensetzt.
Nach dem Fall des rassistischen Apartheidsystems 1990 hatten die Menschen bürgerliche-demokratische Rechte erkämpft: Jeder Staatsangehörige ist vor dem Gesetz gleich, Rassismus wird streng bestraft, die Arbeiter erhielten erstmals seit Jahrzehnten das Recht auf freie gewerkschaftliche Betätigung. Unter dem Schirm der „Regenbogennation“, die die Gleichheit und Brüderlichkeit  aller Hautfarben symbolisieren soll, wurde aber auch ein ganzes System der Klassenversöhnung eingeführt. Die Funktionäre der Bergarbeitergewerkschaft NUM wurden vor allem nach Vorbild der deutschen Klassenzusammenarbeitspolitik ausgebildet. Mit ihrer Hilfe gelang es, über 20 Jahre große Massenstreiks der Bergarbeiter zu verhindern, obwohl z.B. im Bergbau in der Zeit mehr als die Hälfte aller Arbeitsplätze vernichtet wurden.
Weltanschaulicher Kern des Betrugssystem war die Illusion eines dritten Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus, während in Wahrheit das allein herrschende internationale Finanzkapital seine Herrschaft zunehmend festigte. Eine Reihe von Reformen brachten für einen Teil der Bevölkerung einen sozialen Aufstieg. Da nun für Schwarze rechtlich alle Berufe offen standen und dies auch von den ANC-Regierungen gefördert wurde, bildete sich aus der großen Bevölkerungsgruppe der Schwarzen und Farbigen eine breitere kleinbürgerliche Zwischenschicht von Akademikern, Beamten usw. heraus. Ein Wohnungsbauprogramm (Low-Cost-Housing) schuf Hunderttausende schlichte feste Häuser zu geringfügigen Mieten. Ein bekannter Slogan des ANC war, „bis 2014 wird kein Südafrikaner mehr in einer Elendshütte hausen“. All das waren materielle Grundlagen, auf denen das System der kleinbürgerlichen Denkweise auch in Südafrika als Herrschaftsmethode eingeführt wurde.
Über Jahre wurde diese Entwicklung unter den Massen verarbeitet. Die Unzufriedenheit wächst und immer mehr sehen sich um die Früchte ihres Kampfes gegen die Apartheid betrogen. Ein Platinarbeiter aus der Limpopo-Region  berichtete uns schon vor vier Jahren. „Was sich für mich geändert hat, ist, dass mein Boss jetzt auch schwarze Haut hat wie ich.“  
Seit etwa 2004 haben wieder selbständige Kämpfe gegen Preistreiberei, für Arbeitssicherheit in den Betrieben, oder für Wasser und Stromanschluss in den Townships zugenommen. Im ANC, den viele immer noch als „ihre“ Befreiungsorganisation ansehen, führte dies zu scharfen Widersprüchen und er ist in viele Fraktionen gespalten.
Das Polizeimassaker hat wie nie zuvor den Charakter des „Regenbogen“-Staates als Unterdrückungsmaschine gegen die Massen offenbart. Im Fußballstadion von Rustenberg haben tausende Bergleute und Bewohner der Region den Rücktritt der Regierung verlangt. Auch die NUM-Führung ist in der Kritik. Viele sind selbst ins Management aufgestiegen. „Sie sollen verschwinden, sie haben nichts getan außer uns zu bestehlen“, rief ein Streikführer.
Besonders niederträchtig ist die Rolle der revisionistischen Kommunistischen Partei Südafrikas. Sie hat sich zum offenen Handlanger für das allein herrschende internationale Finanzkapital in Südafrika entwickelt. Sie beschimpfte die Arbeiter als „Extremisten“ und „Terroristen“.
Südafrika ist nach dem Fall der Apartheid mit der mit Abstand stärksten Volkswirtschaft in Afrika auf dem Weg zu einem imperialistischen Land. Die ansässigen Monopole haben davon profitiert, dass die gesamte westliche Finanzwelt in den zukunftsträchtigen Markt investierte. Doch damit war das Land auch der Spekulation und dem Schwanken der Rohstoffpreise auf dem Weltmarkt ausgeliefert. Mit jedem Fallen der Rohstoffpreise bei Metallen wurde seine wichtigste Devisenquelle empfindlich getroffen. Zu Beginn der Weltwirtschafts- und -finanzkrise 2008 standen längere Zeit etliche Zechen still. Mit einem großen Infrastrukturprogramm für die WM 2010 wurde der abrupte Rückgang der Wirtschaftsleistung wieder abgefangen. Aber nur kurzzeitig, 2011 ging es wieder bergab. Die verarbeitende Industrie des Landes orientiert sich sehr stark auf den asiatischen Raum (Indien, China, Taiwan, Japan).  Deren zum Teil hohe Zuwachsraten gehen zurück. Zugleich bilden sie eine zunehmende Konkurrenz, z.B. auf dem Automarkt.
Die Rohstofflieferungen gehen vor allem in die USA und nach Europa und sind damit deren krisenhaften Entwicklungen ausgesetzt. Die ehemalige jahrzehntelange Nummer eins der Weltgoldproduktion steht heute auf Rang drei mit absteigender Tendenz. Südafrikas Bergbau-Konzerne investieren heute mehr in allen anderen afrikanischen Ländern für Exploration als in Südafrika selbst. Die massenhafte Abwendung vom ANC – insbesondere unter den Industriearbeiten und vor allem jetzt bei den Bergarbeitern – hat zu einer tiefen Krise  des politischen Systems in Südafrika geführt. Dem versuchen sich die Herrschenden mit Gewalt und Betrug entgegenzustemmen.
Dass sie hart kämpfen können, das haben die Arbeiter in den Jahrzehnten der Apartheid gelernt und sie sind im Begriff, es wieder zu lernen. Davor haben die Herrschenden eine Riesenangst, weil der gefesselte Riese Arbeiterklasse wieder erwacht.
Es steht aber noch ein langwieriger und komplizierter Prozess der Höherentwicklung des Klassenkampfes und des Parteiaufbaus bevor. Aktuell wird Julius Malema als neuer Hoffnungsträger aufgebaut. Er unterstützt wortgewaltig die Arbeiterkämpfe und fordert die Verstaatlichung der Minen und wird in den Massenmedien Südafrikas tagtäglich als der Schrecken der Kapitalisten hochgespielt. Alles nur, um eine revolutionäre Entwicklung im Linkstrend zu verhindern. Malema wurde aus dem ANC  ausgeschlossen. Er steht nicht für eine revolutionäre Veränderung. Vielmehr schwebt ihm als gesellschaftliches Ideal etwa ein System wie  in Zimbawe unter Robert Mugabe vor, den er im April 2010 als Freund und „Visionär“ bezeichnete.
Für die revolutionäre Richtung in Südafrika steht die marxistisch-leninistische Partei CPSA(ML) (siehe Interview auf Seite 8), die auch ICOR-Mitglied ist. Sie unterstützt die Kämpfe der Arbeiter und ihre Ausweitung und verbindet das mit der Überzeugungsarbeit, dass die Selbstbefreiung der Massen in Südafrika nur durch den revolutionären Sturz des herrschenden Systems möglich ist.  

Was können wir in Deutschland tun?
Viele Menschen hier sind über das Polizeimassaker empört. Es sagt viel über den Charakter der Merkel-Regierung, dass sie dazu  schweigt, wie auch schon bei der Erschießung von über 50 streikenden Ölarbeitern in Kasachstan vor einem Jahr. Wo sie sich sonst ständig als „Anwalt der Menschenrechte“ aufspielt.
Und was tun die Gewerkschaften, wenn Klassenbrüder auf der Welt ermordet werden? Von den Gewerkschaftsführungen von DGB, IGBCE und anderen ist kein Wort zu hören. Mit ihrer Verweigerung der Solidarität lassen sie nicht nur die  Kumpel dort im Regen stehen. Sie richten sich damit gegen den Aufbau einer gemeinsamen Kampffront der Arbeiter und Volksmassen gegen das allein herrschende internationale Finanzkapital. Diese Schweigemauer muss im gemeinsamen Interesse der Arbeiter dort wie hier gegen die Politik der Klassenzusammenarbeit durchbrochen werden. Das muss heute eine Selbstverständlichkeit für jeden kämpferischen Gewerkschafter werden.
Die MLPD wird mit der Solidarität mit dem Kampf der südafrikanischen Bergarbeiter auch die Bekanntmachung der ICOR und ihre notwendige Stärkung verbinden.
Die Ereignisse in Südafrika und die zunehmend scharfen Angriffe auf die Bergarbeiter in vielen Teilen der Welt rufen nach einer Vereinigung zu einem gemeinsamen Kampf über Ländergrenzen und Kontinente hinweg. Die internationale Bergarbeiterkonferenz im März 2013 in Peru kann dazu einen wichtigen Beitrag leisten.  

Wolf-Dieter Rochlitz

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