Grüne streiten über sexuellen Kindesmissbrauch
Kritisch-selbstkritische Aufarbeitung oder antikommunistische Rechtfertigungen?
Politiker von CDU und CSU greifen seit einiger Zeit die Grünen an. Sie behaupten, dass unter den Grünen in ihren Gründungsjahren Kindesmissbrauch geduldet wurde. Handelt es sich um eine reaktionäre Kampagne, die man in die rechte untere Schublade einsortieren darf? Das wäre zu leicht gemacht.
Zum historischen Hintergrund gehört, dass in den 1970er und noch in den 1980er Jahren der Kampf gegen den Paragrafen 175, der Homosexualität unter Strafe stellte, von nicht wenigen Vertretern der antiautoritären Richtung innerhalb und außerhalb der Grünen mit der Forderung nach weitgehender Änderung und Liberalisierung des Paragrafen 174 vermischt wurde. Dieser Paragraf steht gegen sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen. Das aufzuarbeiten, fordert in prominenter Position bisher am meisten die grüne Sprecherin Claudia Roth.
Wie aber soll eine solche Aufarbeitung aussehen? Wird sie wirklich kritisch-selbstkritisch durchgeführt und vertieft – auch bis zu ihrem weltanschaulichen Kern – oder bleibt sie an der Oberfläche und wird sogar zu antikommunistischen Ausfällen und Ablenkungsmanövern genutzt? Letzteres zeigt sich leider und auf schockierende Weise im Falle des EU-Abgeordneten und diesjährigen Theodor-Heuss-Preisträgers Daniel Cohn-Bendit.
Er war als junger Mann ein Führer der Pariser Maiunruhen von 1968, die damals die Entwicklung einer revolutionären Gärung in der französischen Gesellschaft zum Ausdruck brachten. Sein Engagement folgte den Ideen der Anarchisten und Antiautoritären. Das hat er insbesondere in dem Buch „Linksradikalismus – Gewaltkur gegen die Alterskrankheit des Kommunismus“ auch theoretisch verarbeitet. Dabei nahm er die staatstragende Rolle der „Kommunistischen Partei Frankreichs“ (KPF) einerseits aufs Korn, andererseits aber auch zum Vorwand, deren modernen Revisionismus und Verrat an der Revolution mit dem Marxismus-Leninismus gleichzusetzen und als angeblichen „Stalinismus“ zu brandmarken. Nach dem Pariser Mai wurde er von der französischen Regierung ausgewiesen. Später war er in der antiautoritären Bewegung in Frankfurt aktiv, wo er sich an einem Kinderladen-Projekt beteiligte. 1975 schrieb er das Buch „Der große Basar“, in dem er unter anderem von Sex mit Kindern berichtet, die ihm als Kindergärtner anvertraut waren.
Proteste gegen Cohn-Bendit vor dem Schloss und großes Lob im Schloss
Besonders diese Stellen aus dem Buch nahmen rund 100 Demonstranten zum Anlass, um im April 2013 vor dem Stuttgarter Schloss zu protestieren. Dort erhielt Daniel Cohn-Bendit den diesjährigen Theodor-Heuss-Preis der gleichnamigen Stuttgarter Stiftung. Ministerpräsident Winfried Kretschmann hielt die Festrede.
Daniel Cohn-Bendit selbst führte dort aus, dass er die Empörung vor dem Schloss für gerechtfertigt halte. Der Text von damals sei „heute unerträglich“, aber es wäre „nur“ eine Provokation gewesen. Niemals habe er tatsächlich Sex mit Kindern praktiziert: „Kritisiert mich für das, was ich geschrieben habe – bis zu meinem Tod. Aber jagt mich nicht für etwas, was ich nicht gemacht habe.“ (Sonntag Aktuell, 21. 4. 2013). Ähnlich rechtfertigte er sich in einem späteren „Spiegel“-Interview. (Spiegel 20/13)
Unabhängig davon, ob Daniel Cohn-Bendits Leugnung von Missbrauch in der Praxis glaubwürdig ist oder nicht, fällt auf, dass er seine Verantwortung rein individuell verstanden wissen will. Die Schrift „Der große Basar“ war jedoch eine Anleitung zum Handeln für nicht wenige andere antiautoritäre Aktivisten. Für sie nahm Cohn-Bendit als „Erzieher“ eine Vorbild-Funktion wahr. Und ob diese seine ausführlich dargestellten Sex-Szenen mit Kindern als bloße Provokation empfanden, ist äußerst fragwürdig. Eine Provokation wäre es in der antiautoritären Szene der damaligen Zeit viel eher gewesen, sich eindeutig von sexuellen Handlungen mit Kindern zu distanzieren.
Objektiv betrachtet sind wesentliche Fragen an Cohn-Bendit offen. Um so mehr erstaunt der verständnisvolle Ton, der ihm von Parteifreunden entgegengebracht wird oder auch die sanften Befragungs-Techniken bürgerlicher Interviewer. Wollen die Betreffenden Kindesmissbrauch als Jugendsünde durchgehen lassen? Auch wenn es verständlich ist, dass manche empörte Kritiker die Frage in erster Linie so aufwerfen, liegt ein anderer Verdacht näher: Cohn-Bendit ist eine Gallionsfigur des modernen Antikommunismus – als solcher soll er geschützt werden. Denn dafür wird er noch gebraucht. Schon in Stuttgart attackierte er kritische Zeitungskommentare über ihn als „in altstalinistischer Weise verkürzt“. (Gemeint war übrigens die „FAZ“!) In diesem Sinne rief dann auch Festredner Kretschmann zum großzügigen Verzeihen auf, worüber die Zeitungen zu berichten wussten: „Verzeihen sei in einer Demokratie sogar elementar, weil es die Chance biete, Irrtümer zu korrigieren, sagt der 64-Jährige, auch im Rückblick auf seine eigenen ,linksradikalen Verirrungen‘“. Das ergänzte der ebenfalls grüne Stuttgarter Verwaltungsbürgermeister Wölfle durch den Hinweis, dass Cohn-Bendit zwar manchmal ein „unkonventioneller, auch nerviger Typ“ sei, aber er könne integrieren. Unter anderem habe er nach 1968 „große Teile der Protestbewegung mit dem Parlamentarismus versöhnt.“ („Sonntag Aktuell“, 21. 4. 2013)
Cohn-Bendits feige Denunziation und ihre weltanschaulichen Wurzeln
Cohn-Bendit wäre wohl nicht Cohn-Bendit, würde er nicht noch einen drauf setzen wollen! So darf er im Interview mit dem „Spiegel“ unwidersprochen behaupten, dass die aus der 1968er-Protestbewegung hervorgegangenen Linken eben ihre diversen „schmuddeligen Ecken“ hatten. So habe es die „Gewaltecke“ gegeben, die „Ecke der antiautoritären Erziehung“ und „eine totalitäre Ecke mit Leuten, die irgendwelchen maoistischen Idealen nacheiferten.“ (Spiegel 20/13)
Wem dafür die Bezeichnung „feige Denunziation“ einfällt, drückt sich bestimmt nicht übertrieben aus. Aber es ist nicht nur eine antikommunistische Attacke nach der Methode „Haltet den Dieb!“, es ist auch ein Offenbarungseid, wie weit ein ehemals kleinbürgerlicher Revolutionär herabsinken kann. Nicht zuletzt, weil ihm das Wesen des Begriffs „Solidarität“ zeitlebens unverständlich blieb. Genau darüber führte Willi Dickhut, Theoretiker und Mitbegründer der MLPD, im Revolutionären Weg Nr. 3 von 1970 „Antiautoritarismus und Arbeiterbewegung“ eine wichtige Auseinandersetzung mit dem noch jungen Daniel Cohn-Bendit: „Auch Cohn-Bendit proklamiert offen den (bürgerlichen) Individualismus, wie aus dem oben zitierten Abschnitt hervorgeht, wo es am Ende heißt: ,Beginne, nicht für die anderen, sondern mit den anderen, für dich selbst, hier und jetzt mit der Revolution.“ (…) Cohn-Bendit erwartet also das harmonische Zusammenwirken der Revolutionäre nicht von gegenseitiger Solidarität, sondern davon, dass jeder einzelne seine Interessen verfolgt. Das ist im Grunde nichts anderes als Manchester-Liberalismus, so sehr sich Cohn-Bendit natürlich auch gegen eine solche Einordnung wehren würde. Aber es geht hier ja gar nicht darum, ihm persönlich bösen Willen zu unterstellen – es kommt nur darauf an, objektiv festzustellen, dass er eindeutig eine bürgerliche und keinesfalls eine proletarische Auffassung vertritt.“ (S. 193)
So war das damals – und lässt die Frage aufkommen, ob nicht dieser bürgerliche Individualismus von 1970 in letzter Konsequenz bis zu dem extrem eigensüchtigen Verhalten von 1975 führte, über das Cohn-Bendit in „Der große Basar“ berichtete. Heutzutage vertritt Cohn-Bendit das nicht mehr, aber warum geht er der Wurzel seines Verhaltens nicht auf den Grund? – Lieber setzt er auch diesmal wieder auf antikommunistische Attacken. Die damit verbundene Hoffnung, sich aus der Affäre zu ziehen, ist jedoch mehr als trügerisch.
Peter Borgwardt