Richtungskämpfe und Anpassungszwänge prägen das Literatur-Geschehen
Über Buchauflagen, Bestseller-Listen, Nobelpreise, Zensur und Kritik
Der Europarat vertritt 47 Länder, in denen 800 Millionen Menschen leben. Mit seiner Entschließung vom 25. Januar 2006 unter dem Titel „Die Notwendigkeit der Verurteilung von Verbrechen totalitärer kommunistischer Regime“ wollte er keineswegs nur antikommunistische Vergangenheitsbewältigung betreiben. Für die Zukunft sollte nach Punkt 7 der Entschließung insbesondere ein antikommunistisches Leitbild für das Handeln der heutigen wie auch der kommenden Generationen geschaffen werden. Ein Gebiet, auf dem dieser weltanschauliche Kampf zwischen modernem Antikommunismus und wissenschaftlichem echten Sozialismus ausgetragen wird, ist die Literatur.
Dazu gehört insbesondere die Methode, Literaturpreise auszuschreiben und zu vergeben, wobei der Literatur-Nobelpreis durch die Schwedische Akademie als die höchste internationale Auszeichnung gilt.
Literatur ist sprachliche Kunst, ihre historischen Ursprünge liegen im antiken Europa, wobei sie verschiedene Gattungen hat: Epik mit dem Roman als Hauptform, Dramatik mit dem Theater als Medium sowie Lyrik, also Gedichte. Seit der Entwicklung des Kapitalismus zum Imperialismus kam als vierte Form auch die Essayistik hinzu. Sie ist eine Art journalistischer Kunstform und könnte als mehr oder weniger geistreicher Kommentar eines Autors zu Fragen der Zeit bezeichnet werden.
Durchschnittlich 8,9 Bücher pro Jahr
Literatur ist heute schon lange nichts mehr, was auf die sogenannten höheren und gebildeten Schichten beschränkt wäre. Der Buchumsatz in Deutschland ist mit 9,6 Milliarden Euro einer der höchsten der Welt, jährlich gibt es hierzulande 80.000 Neuerscheinungen, davon werden 11.000 allein vom Verlagsriesen Bertelsmann herausgegeben. Durchschnittlich liest jeder Deutsche 8,9 Bücher pro Jahr.
Somit haben wir es mit einer literarischen Industrie zu tun und einer von ihr betriebenen Massenproduktion. Sie ist weit mehr als nur die quantitative Summe vieler Ideen einzelner Schriftsteller. Was in diesen Unmengen von Büchern steht und über sie verbreitet wird, ist Gegenstand der Kulturpolitik des allein herrschenden internationalen Finanzkapitals und des Systems der kleinbürgerlichen Denkweise – wobei solche Entschließungen wie das oben genannte Dokument des Europarates ideologische Weichenstellungen sind.
Schriftsteller vor der Entscheidung
Sie haben für Literaturschaffende existenzielle Bedeutung. Wer z.B. heute als Schriftsteller einen Verlag finden will oder gar einen der zahlreichen Literaturpreise zu gewinnen sucht, steht vor der Entscheidung: Mache ich mit beim offenen bzw. dem weitaus moderneren und subtilen Antikommunismus oder stelle ich mich gegen den Strom?
Der Mainstream wird dabei vorgegeben von den Bestsellerlisten. Das heißt den Top 10–20 der meistverkauften Romane, wobei die „Spiegel“-Bestsellerliste Woche für Woche an der Spitze der Meinungsmanipulation steht, auch europaweit. Das Genre der Kriminalliteratur hat sich zur heute beliebtesten Massenliteratur entwickelt. Tausende von Krimi-Kommissaren gegen Verbrechen ermitteln, die wiederum immer häufiger im Umfeld von Politik und Wirtschaft, Kapitalismus, aber auch Sozialismus/Kommunismus angesiedelt sind. Man kann durchaus die These aufstellen, dass es kaum einen nennenswerten Kriminalroman gibt, in dem sich dieser weltanschauliche Antagonismus nicht in der einen oder anderen Form finden ließe.
Zwei Beispiele
Seit 2011 gibt es ein neues Kommissar-Duo, das gleichzeitig in Berlin und Wien ermittelt. Im ersten Fall, der mit weiteren Fällen fortgesetzt werden soll, wimmelt es geradezu von ehemaligen deutschen Maoisten, österreichischen Trotzkisten, Revisionisten der KPÖ und deren illegalen Spenden-Milliarden usw. So bleibt einem fast die Spannung im Halse stecken, denn die Autoren – natürlich zwei ehemalige Linke – ziehen alle Register. Doch am Ende spitzt sich die Frage, woher die Mörder kommen, einzig und allein auf folgende zu: „Und was glaubst du, wer das war? Al Kaida oder Stalins langer Schatten?“ Da bis zu dieser Seite, immerhin Seite 291 von 358, noch nie etwas von islamistischen Fundamentalisten zu lesen war, ergibt sich die Antwort von selbst. Es war wieder einmal Josef Stalin, bis 1953 Vorsitzender der KPdSU und des Ministerrates der UdSSR; er findet auch 60 Jahre nach seinem Tod offenbar keinen Mordfall im europäischen Krimi-Szenario zu unbedeutend, um nicht führend seine Finger da hineingesteckt zu haben. (Diogenes-Verlag)
Das zweite Beispiel ist der Roman von Henning Mankell „Der Chinese“, Zsolnay-Verlag. Mit ihm durchbrach der bekannteste Autor Schwedens und darüber hinaus einer der meistgelesenen Schriftsteller Europas 2008 das Tabu, dass man über Mao Zedong und insbesondere die Kulturevolution nichts Positives schreiben dürfte. Trotz der sofort aufwallenden antikommunistischen Literaturkritik in den Medien wurde das Buch zum Bestseller und sogar verfilmt. Im Film selbst sind die Passagen über Mao Zedong jedoch wieder entfernt worden.
Nachträgliche „Läuterung“
2011 verstieg sich der in Europa lebende chinesische Autor Yu Jie angesichts der Verleihung des Nobelpreises an den chinesischen Dichter Mo Yan in diesem Zusammenhang sogar zu folgendem Urteil: „Ich denke, der Nobelpreis sollte an niemanden verliehen werden, der Mao Tsetung lobt, egal wie populär sein Werk ist.“ („Stuttgarter Zeitung“, 12. 10. 2012)
Fortan wurde Mo Yan in die Mangel genommen, um ihn zumindest nachträglich auf diese Linie einzuschwören, was in einem ausführlichen „Spiegel“-Gespräch im Frühjahr 2013 dann auch erfolgte. Hier sprach er sich offen gegen die chinesische Kulturrevolution in den 1960er Jahren aus, obwohl er ihr eigentlich seine Schriftsteller-Laufbahn verdankte. Als jugendlicher Rotgardist auf dem Land hatte er sich damals für die Geschichten der Bauern begeistert, die sie abends nach der Arbeit erzählten – und sich ihren Stil zum Vorbild genommen. Darüber hinaus lobte er jetzt die angeblichen „sozialen Wohlfahrtsstaaten“ Westeuropas. Ausgerechnet sie hätten seiner Meinung nach Marx viel besser verstanden als die „Chinesen, Russen und Osteuropäer“ („Spiegel“ 9/13).
Massenauseinandersetzung in der Weltliteratur
Auch in diesem Jahr durfte man wieder gespannt sein, wer unter den Hunderten Vorschlägen ausgewählt wird, den „Weltmeistertitel“ der Schriftsteller zu erhalten (1). Viele staatliche und mächtige private Institutionen sind in das vollständig durchorganisierte Auswahlverfahren für den „Weltmeistertitel“ der Schriftsteller einbezogen.
Des Weiteren machen internationale Verlage intensive Lobby-Arbeit, sodass die Nobel-Kommission am Ende nicht etwa aus Intuition, sondern aus deren Vorgaben einen ihr „würdig“ erscheinenden Autor bestimmt.
Dennoch kommt es hin und wieder auch zu fortschrittlichen oder zumindest streitbaren Nominierungen, wovon z. B. die Ehrungen von Pablo Neruda, Heinrich Böll oder Orhan Pamuk zeugen. Ihre Werke und die einer ganzen Reihe anderer Schriftsteller sind unter den Massen verankert, nicht zuletzt deshalb, weil sie sich vom modernen Antikommunismus eben nicht so leicht vereinnahmen lassen. So tragen sie mit dazu bei, die Massenauseinandersetzung auf dem Gebiet der Weltliteratur zu entfalten.
Immer mehr Menschen interessieren sich für diesen Kampf zweier Richtungen, wollen die antikommunistische Kost nicht mehr einfach runterlöffeln und die Marxisten-Leninisten sollten ebenfalls ihre Anstrengungen auf diesem Gebiet verstärken. Revolutionäre und dialektische Literatur-Kritik ist heute gefragt und die Nachfrage wird steigen, denn sie ist Teil eines wachsenden Bedürfnisses nach Bewusstheit. Buchbesprechungen, Literatur-Stammtische, szenische Lesungen, vor allem auch eigene literarische Produktionen und ihr offensiver Vertrieb sowie viele weitere und neue Ideen können den Weg dazu weisen.
Peter Borgwardt
(1) Der Artikel entstand kurz vor der diesjährigen Preisverleihung. Am 10. Oktober erhielt die kanadische Schriftstellerin Alice Munro den Nobelpreis für Literatur. Aktuell schrieb dazu „rf-news“ unter der Überschrift „Literaturnobelpreis für Meisterin der Short Story“:
„Am 10. Oktober 2013 wurde die diesjährige Literaturnobelpreisträgerin bekanntgegeben: Alice Munro, 1931 geboren, stammt aus Ontario. Sie gehört zu den bekanntesten und bedeutendsten Autoren Kanadas und wurde mit vielen Preisen geehrt. Ihre Erzählungsbände sind in zahlreiche Sprachen übersetzt.
Alice Munro lebt in Ontario und in British Columbia. Sie gilt als Meisterin der Gattung Kurzgeschichte. Vordergründig schreibt sie nicht über politische Themen. In ihren fein beobachteten Erzählungen über den Alltag vor allem von einfachen Frauen ergreift sie jedoch sehr wohl Partei für deren Interessen.“