Umweltalarm in Kalabrien (Italien): „SOS – Sie töten uns mit Tumoren!“

Kalabrien (Korrespondenz): Es war für uns ein Traumurlaub, die 14 Tage an Kalabriens Westküste, dem feuerspucken­den Stromboli gegenüber. Aber wie schlimm es für die Menschen in der Umgebung von Gioia Tauro und am Aspro­monte-Gebirge gesundheitlich aussieht, haben wir erst etwas aus Zeitungen und im Nachhinein durch Recherchen erfahren.

Die Ebene von Gioia Tauro

Die Stadt Gioia Tauro am gleichnamigen Golf hat knapp 20.000 Einwohner und vor allem einen riesigen Containerhafen, in dem nun gerade das Giftgas aus Syrien umgeladen wurde, unter massivem Protest der Bevölkerung. (Nach der „Entgiftung“ auf hoher See sollen die Abfälle in einer Müllverbrennungsanlage in Ellesmere Port in England von Veolia Environnement verbrannt werden!)

Die Ebene dahinter vergleicht eine Bürgerinitiative mit einem „Taschentuch“, auf dem sich nicht nur zwei inzwischen von Behörden geschlossene offene Mülldeponien befinden, sondern auch eine Müllverbrennungsanlage (MVA), ein Turbo-Gaskraftwerk und Kläranlagen, die am ehesten mit Giftseen zu vergleichen sind. Auf die Mülldeponien wird seit mindestens 30 Jahren alles verbracht, ohne je etwas für eine Bodenverbesserung getan zu haben. Schon in den 1970er Jahren wurden Erdaushübe gezielt dazu benutzt, giftigste Abfälle in den Boden zu verbuddeln. Und heute ist die ganze Gegend mit massiv steigenden Raten von Krebstoten, besonders auch von Kindern und Jugendlichen konfrontiert. Die Zahlen in den Kleinstädten liegen seit einigen Jahren zwischen einigen hundert bis weit über tausend. Ein onkologisches Zentrum zur Tumorbehandlung gibt es weit und breit nicht.

Besonders auffällig sind auch sehr aggressive Krebsformen, so dass die Menschen oft innerhalb kurzer Zeit sterben.

Die Tankwagen

Jeden Tag rollen riesige Tank­lastzüge aus allen Gegenden Italiens an, um ihre schwarze Giftbrühe, von der niemand weiß, was sie alles enthält, unkontrolliert in „Kläranlagen“ oder an der Mündung der Flüsse Mesima und Petrace zu „entsorgen“. Im Film einer Bürgerinitiative („Da Gioia Tauro ad Africo …“), wird sehr eindrucksvoll dargestellt, wie die Fahrer reagieren, als sie zur Rede gestellt werden: „Wir wissen nichts und dürfen nichts sagen!“

Und einer fährt mit dem Finger über den geschlossenen Mund. Ins Meer der Küste laufen dazu noch die „normalen“ Abwässer aus Landwirtschaft und Kloaken. Noch nie erfolgte eine Untersuchung des Grundwassers.

Die Müllberge

In Italien gibt es erst seit kürzerer Zeit eine Müllsortierung, die aber praktisch kaum durchgesetzt wird. Abgesehen davon ist das Müllproblem vor allem im Süden gigantisch. In vielen Straßen liegen offene, unentsorgte Müllhaufen. Besonders in Cosenza inmitten großer Wohngebiete waren wir entsetzt über die Dimensionen. Auch an den Stränden wird der Müll, natürlich auch Plastik, offen verbrannt.

Und so nehmen sich auch Kriminelle wie die Mafia des Problems an und lösen es auf ihre Weise.

Die MVA von „Ecologia oggi“

Die Anlage zur Müllverbrennung in der Ebene von Gioia wird betrieben von einer Tochterfirma des berüchtigten französischen Wasser-Privatisierungskonzerns „Veolia“, die den sinnigen Namen „Ökologie heute“ trägt. Ihre Anlage ist eine gigantische Dreckschleuder, taugte nur zum Verschrotten, wurde aber auf billigste Weise repariert und soll sogar erwei­tert werden. Verbrannt wird alles unsortiert, auch Müll aus Sizilien. Es stinkt ringsum wie die Pest, nicht nur, weil die Filter defekt sind. Die Menschen dort sind überzeugt, dass sie eine wesentliche Ursache für die hohe Todesrate bei Kindern und Jugendlichen mit Leukämie und Lymphknotenkrebs darstellt und verlangen die umgehende Schließung.

Eine Erklärung der Ärzte

Bereits im Jahr 2011 lancierte eine Ärzte-Initiative einen Appell, um auf die schlimme Situation aufmerksam zu machen. Vor allem nahm sie zur Gefährlichkeit der Müllverbren­nungsanlagen Stellung, zu der von Gioia Tauro im Besonderen, und erklärte, dass es für Feinstäube generell keine Filter gibt, weil sie unter der möglichen Filtergrenze von 2,5 Millionstel Metern liegen, somit bis in den Zellkern vordringen und dort ihre zerstörerische Wirkung entfalten können. Sie machten auf den Ausstoß von Seveso-Giften, Stick­oxiden und Schwermetallen aufmerksam, wandten sich gegen jedwede Form der Verbrennung von Müll und forderten stattdessen alternative und gesundheitsverträgliche Formen der Müllentsorgung.

Die Todesstraße von Africo

Auf der anderen Seite des Stiefels liegt hinter dem Aspromonte-Gebirge am Jonischen Meer das Städtchen Africo mit knapp 3.000 Einwohnern. Dessen Via Giacomo Matteotti nennt das Volk „die Straße der Todgeweihten“, weil in dieser innerhalb der letzten drei Jahre über 30 Menschen an Krebs starben. Damit wurde die Bevölkerung in diesem Viertel fast halbiert. Und es ist kein Ende des Sterbens abzusehen.

Es gibt sogar Babies im Mutterleib, die schon Krebs haben. „90 Prozent aller Krebserkrankungen werden durch Umwelteinflüsse verursacht“. Plastischer als im Fall der kalabresischen Krebsfälle könnte diese Aussage des Buches „Katastrophenalarm!“ (S. 222) kaum verdeutlicht werden!

Jetzt plant ein Schweizer Konzern dort sogar noch ein Kohlekraftwerk! Der Widerstand dagegen wächst.

Die Pilger

Als jetzt der Papst an die Ostküste Kalabriens zu Besuch kam, nutzte eine Bürgerinitiative aus Gioia Tauro die Gelegenheit, um mit einem großen Transparent auf die schlimme Situation aufmerksam zu machen. „Hilfe, sie töten uns mit Tumoren!“ Natürlich wird der Papstbesuch nichts an der Krebsstatistik ändern und auch nichts an den mafiösen Strukturen. Aber das Volk wird immer erfinderischer in seinem Widerstand gegen die aus reiner Profitgier breit angelegte Volksvergiftung.

Widerstand zwischen „Skylla und Charybdis“

Odysseus, der große Held der griechischen Sage, soll in dieser Gegend durch zwei Meer­ungeheuer bedrängt worden sein. Er opferte seine Gefährten und rettete seine Haut.

Das kalabresische Volk muss noch gegen viel mehr „Ungeheuer“ kämpfen. Die Feinde heißen nicht „Skylla und Cha­ryb­dis“, sondern Luft-, Flüsse-, Meeres- und Bodenvergiftung, tödliche Krankheiten, Unwetter, Mafiastrukturen, Arbeitslosigkeit, Hungerlöhne, Krisen­programme der Regierung in Rom mit ständig ­neuen Steuern, und nicht zuletzt, die völlige Gleichgültigkeit und Untätigkeit der Regierungsbehörden bezüglich der dramatischen Gesundheitssituation. Aber aufgegeben wird nicht! Die Bevölkerung organisiert sich in Bürgerinitiativen und Komitees, die Unterschriften sammeln für Untersuchungen des Grundwassers und der Krebsursachen, für die Einrichtung onkologischer Zentren, sie erstellen selber Krebsstatistiken und helfen sich gegenseitig. Es werden Kundgebungen, Proteste, Kongresse und regionale Widerstandsfeste organisiert zur Rettung der Umwelt wie gegen die immer noch mächtige Mafia, um aufzuklären und sich zusammenzuschließen in ganz Kalabrien, denn überall ist die Situation ähnlich.

Ndrangheta und offene Geheimnisse

Schon gleich zu Beginn des italienischen Faschismus war die ’Ndrangheta, die kalabresische Mafia, voll mit von der Partie. Höchst bekannte Mafiosi waren Faschisten in führenden Positionen und erschossen auch Bauern, die Land besetzt hatten. Gerade im Aspromonte-Gebirge und in der Gegend von Africo konnte sich die ’Ndran­gheta als heimliche Schattenregierung schon damals etablieren, im Grunde bis heute. Wo man auf besonders kriminelle Weise reich werden kann, ist die ’Ndrangheta dabei, beispielsweise im Müllgeschäft.

Und da gibt es keinerlei Skrupel. Es wurde bekannt, dass die Mafia in Kooperation mit Geheimdiensten sowohl in den Bergen des Aspromonte wie auch in der Küstenregion bei Africo radioaktiven Müll vergrub. Einer der übelsten Mafia­bosse der Region, genannt „U Tiradrittu“, war dabei führend. Man hat sogar aus dem Kohlekraftwerk von Brindisi, das der halbstaatlichen Elektrizitätsgesellschaft ENEL gehört, hochgiftige radioaktive Kohleschlacke illegal „entsorgt“ und als „Ziegel“ zum Bau von Häusern verwendet. Wie sich die Behörden zu den Giftskandalen verhalten, nämlich desinteressiert und untätig, ist keineswegs Zufall.

Eine neue Sichtweise …“

Die wahre Entdeckungsreise besteht nicht in der Suche nach neuen Territorien, sondern in einer neuen Sichtweise“, zitiert die genannte Ärzte-Initiative Marcel Proust. Natürlich werden weder internationale Multis, noch Mafiabosse noch die Renzi-Regierung in der Umweltfrage jemals eine „neue Sicht“ einnehmen, denn es geht nur darum, die Maximalprofite zu sichern. Sie kann nur aus dem Volk selber kommen, aus der Erkenntnis, dass eine internationale Umweltgewerkschaft dringend notwendig ist, und letztlich aus der Gewissheit, dass es für Menschen und die sie ernährende Tier- und Pflanzenwelt nur in einem neuen System eine Überlebenschance gibt.

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