Vor 70 Jahren: Hat Stalin den Aufstand von Warschau verraten?

Am 1. August 1944 begann der Warschauer Aufstand1 gegen die deutschen Besatzer. Zehntausende Polen erhoben sich im bewaffneten Kampf gegen die verhassten Nazis. Am 1. Oktober, nach acht Wochen blutigster Kämpfe, wurde der Aufstand endgültig niedergeschlagen. Wie besessen organisierten Wehrmacht und SS die Vernichtung von fast 300.000 Menschen und machten beinahe das gesamte Zentrum der polnischen Hauptstadt dem Erdboden gleich. Die herrschende Geschichtsschreibung behauptet, Stalin habe an diesem Massaker erhebliche Mitverantwortung, weil er aus machtpolitischen Interessen der vor Warschau stehenden Roten Armee untersagt habe, den Aufständischen zu Hilfe zu kommen. Was ist dran an diesen Vorwürfen?

Wer rief den Aufstand aus und warum?

Am 22. August 1944 schrieb Stalin an Churchill: „Früher oder später wird die Wahrheit über die Verbrecherbande, die das Warschauer Abenteuer anzettelte, um die Macht an sich zu reißen, allen bekannt werden. Diese Elemente haben das Vertrauen der Warschauer ausgenutzt und viele praktisch wehrlose Menschen den deutschen Kanonen, Panzern und Flugzeugen ausgeliefert. Es ist eine Lage entstanden, bei der jeder neue Tag nicht den Polen für die Befreiung Warschaus, sondern den Hitlerfaschisten nutzt, die in unmenschlicher Weise die Einwohner Warschaus ausrotten.“2

Warum nannte Stalin die Organisatoren des Aufstands eine „Verbrecherbande“? Die polnische Widerstandsbewegung war in sich klassenmäßig gespalten, es gab zwei politische Zentren: Die im „Polnischen Komitee der nationalen Befreiung“ (Lubliner Komitee) zusammengeschlossenen antifaschistisch-demokratischen Kräfte, die die Interessen der polnischen Werktätigen vertraten. Und die reaktionäre, nach London geflohene Vorkriegsregierung, die die Interessen der polnischen Kapitalisten und des Landadels sowie des britischen und französischen Imperialismus vertrat.

Der Aufstand wurde ausgerufen von der Armija Krajowa (AK), dem bewaffneten Arm der Londoner Exilregierung. Diese sah die Befreiung Polens durch die Rote Armee als Gefährdung ihrer Pläne, nach der Vertreibung der deutschen Okkupanten ihre alte Ausbeuterherrschaft wiederherzustellen.

Das Lubliner Komitee hatte alle Antifaschisten aufgerufen, ihre Kräfte gegen die deutschen Faschisten in einer polnischen Volksarmee zu bündeln und an der Seite der Roten Armee zu kämpfen. Diese rückte in ihrer Sommeroffensive schnell auf Warschau vor. Da sah die polnische Exilregierung ihre Felle davonschwimmen und gab panisch den Befehl zum Aufstand, um der Roten Armee bei der Befreiung Warschaus zuvorzukommen und sich dann selbst im Handstreich als legitime polnische Regierung zu proklamieren. Selbst der antikommunistische britische Historiker A. Werth muss zugeben: „Es ist keine Frage, daß der Warschauer Aufstand den letzten verzweifelten Versuch darstellte, Polens Hauptstadt von den sich zurückziehenden Deutschen zu befreien und gleichzeitig zu verhindern, dass das Lubliner Komitee in Warschau Fuß fasste und sich dort – nach dem Einzug der siegreichen Sowjetarmee – endgültig etablierte.“3

Entsprechend ihrer antikommunistischen Zielsetzung vereitelten die AK-Kommandeure um General Bor-Komorowski vor dem Aufstand bewusst jede Koordinierung mit oder auch nur die Information der Sowjetarmee. Von der mächtigen antifaschistischen Streitmacht abgeschottet, desorganisiert und völlig unterbewaffnet war der Aufstand dem Untergang geweiht.

Doppelcharakter des Aufstands

Er war einerseits ein aus Antikommunismus und Machtgier von der Londoner Exilregierung angezetteltes verantwortungsloses Abenteuer, ein Verbrechen am polnischen Volk. Aber aufgrund der von der AK-Führung verbreiteten Fehlinformation, der Einmarsch der Roten Armee stehe unmittelbar bevor und käme ihnen zur Hilfe, schlossen sich begeistert Zehntausende Warschauer dem Aufstand an und kämpften heldenhaft, unterernährt und mit wenigen und schlechten Waffen, gegen die hochgerüstete deutsche Militärmaschinerie. Deshalb trug der Aufstand auch den Charakter einer gerechten antifaschistischen Volkserhebung.

Warum konnte die Rote Armee nicht zum Sieg verhelfen?

Glaubt man den antikommunistischen Geschichtsfälschern, hätte die Sowjetarmee Warschau problemlos einnehmen können. Sie behaupten, Stalin habe die Offensive bewusst gestoppt, um die Gegner eines sozialistischen Polens, die AK, ihrem Schicksal zu überlassen.

Wie war die militärische Lage tatsächlich? Sechs Wochen vor dem Aufstand hatte die Rote Armee mit der Operation „Bargation“ ihre Sommeroffensive gestartet. Symbolträchtig zum Jahrestag von Hitlers Überfall auf die Sowjetunion griffen vier sowjetische Fronten auf einer Breite von 1.100 km an. Sie rieben mit mächtigen Schlägen die Armeen der Wehrmacht vor sich auf. Die starke belorussische Partisanenbewegung zerstörte gleichzeitig mit Sprengstoffanschlägen im Rücken der Deutschen deren Nachschublinien. Die Rote Armee stieß in nur 68 Tagen 600 km nach Westen vor. Die Wehrmacht musste mit der vollständigen Vernichtung ihres stärksten Verbandes, der Heeresgruppe Mitte, die vielleicht katastrophalste Niederlage des Krieges hinnehmen und verlor 400.000 Mann – eine strategische Vorentscheidung des Krieges.

Doch diese gewaltige Offensive hatte ihren Preis: Die Rote Armee hatte Verluste von 770.000 Mann (Tote und Verwundete) zu beklagen. Die Nachschublinien waren aufgrund des schnellen Vormarsches desorganisiert, eine Konsolidierung war zwingend notwendig. Unter diesen Bedingungen war es unmöglich, das von den Deutschen zur Festung ausgebaute Warschau aus der Bewegung heraus einzunehmen. Zudem hatte Hitler befohlen, die Stadt „um jeden Preis“ zu halten und dort alle Kräfte konzentriert. Er wusste, dass von Warschau aus der Weg nach Berlin offen war. Die Rote Armee traf also auf massiven Widerstand. Zum Zeitpunkt des für das sowjetische Oberkommando überraschenden und zum militärisch schlechtest nur denkbaren Zeitpunkt begonnenen Aufstands befanden sich die Hauptkräfte der 1. Belorussischen Front unter Marschall Konstantin Rokossowski noch 200 Kilometer von Warschau entfernt. Nur ihre 2. Panzerarmee war bis an das Ostufer der Weichsel vorgerückt und dort in schwere Kämpfe verwickelt. Rokossowski schrieb in seinen Memoiren: „Die Tragödie, die sich in Warschau abspielte, ließ uns keine Ruhe. Das Bewusstsein, keine große Operation zur Rettung der Aufständischen unternehmen zu können, war bedrückend. Stalin sprach mit mir auf der Direktleitung über dieses Problem. [… Er] erkundigte sich, ob die Truppen der Front imstande wären, sofort eine Operation zur Befreiung Warschaus durchzuführen. Als ich verneinte, bat er mich, die Lage der Aufständischen durch jede mögliche Hilfe zu erleichtern. Meinen Vorschlägen, wie dies geschehen könnte, stimmte er zu.“4

Die angeblich tatenlos zusehenden sowjetischen Streitkräfte führten nach dem Aufschließen der 70. Armee in Wahrheit schwere und verlustreiche Kämpfe gegen die Warschau verteidigenden SS-Panzerdivisionen. Am 14. September waren diese schließlich zerschlagen und der auf der östlichen Weichsel-Seite liegende Vorort Praga erobert. Rokossowski schreibt: „Jetzt wäre der Zeitpunkt für einen Aufstand in der polnischen Hauptstadt gekommen gewesen. Wenn unsere Truppen von Osten und die Aufständischen aus Warschau gleichzeitig über die Weichselbrücken gestoßen wären, hätte man mit einer dauerhaften Befreiung Warschaus rechnen können.“5 Doch an einem solchen gemeinsamen Kampf hatte die Führung der AK kein Interesse. Zu diesem Zeitpunkt bereitete sie längst die Kapitulation vor den Deutschen vor. Der später als Kriegsverbrecher verurteilte Oberbefehlshaber der AK, General Okulicki, berichtete über diese Kapitulationsverhandlungen offen: „[Der Verhandlungsführer der AK] teilte General Bor-Komorowski mit, [SS-Obergruppenführer] von Den-Bach habe erklärt, die Polen müßten den bewaffneten Widerstand gegen die Deutschen unbedingt aufgeben, weil Sowjetrußland der gemeinsame Feind Deutschlands und Polens sei. Als ich Bor-Komorowski am Tage der Übergabe begegnete, sagte ich, daß von Den-Bach vielleicht recht gehabt hätte, und Bor-Komorowski pflichtete mir bei.“6 Entsprechend organisierte die AK in der Folge weiter terroristische Anschläge gegen die Rote Armee und ermordete in Polen mindestens 594 Rotarmisten.

Es waren, neben den Nazis selbst, Leute wie Bor-Komorowski, Okulicki und die Londoner Exilregierung, die die ungeheuerlichen Verleumdungen über Stalin und die Rote Armee erfanden. Damals glaubte ihnen niemand, heute werden sie wie selbstverständlich von den bürgerlichen Medien verbreitet. Tatsächlich reihen sich die Toten von Warschau ein in die lange Blutspur, die die gefährliche Ideologie des Antikommunismus in der Geschichte hinterlässt.

 

1 Nicht zu verwechseln mit dem Aufstand im Warschauer Ghetto ein Jahr zuvor.

2 „Briefwechsel Stalins mit Churchill, Attlee, Roosevelt und Truman“, S. 316, Berlin 1961

3 Alexander Werth: Russland im Kriege 1941–45, S. 589, München 1965

4 K. K. Rokossowski: Soldatenpflicht, S. 350, Berlin 1971

5 ebenda, S. 345

6 Zitiert nach: Sayers/Kahn: Die große Verschwörung, S. 213, Berlin 1953

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