Prüde, anormal oder ganz normal?

Seit einigen Monaten bin ich wieder Single. Die ersten Wochen nach der Trennung waren hart, aber viele Gespräche und mit etwas Zeit verging die Trauer und aktuell ist der Reiz da, was ich wohl so für Chancen habe, auf dem „Markt“. In einer spontanen Aktion meldete ich mich also auf einer (kostenlosen) Online-Dating-Seite an. Gewissenhaft füllte ich „mein Profil“ aus; dort gab es die gewohnten Hobbys wie Sport, Fotografieren, Kochen, Freunde Treffen usw. Keine Kategorie für „Montagsdemons­trant“, „gewerkschaftliche/betriebliche Arbeit“ oder „Kinder- und Jugendarbeit“. Nun ja, dachte ich, es gibt ja auch ein Leben „danach“ und ergänzte eben manuell, dass ich auch Politik mache und aktiv im Umweltkampf bin. Das sollten die Herren ja schon wissen, das ist eine wichtige Profil-Ergänzung von mir. Dann noch eben zwei Bilder hochgeladen … und los kann die Suche gehen.

Ungelogen, noch während des Ausfüllens meines Profils erhielt ich „Post“ mit so wertvollen Inhalten wie: „Hallo, schön, dass du da bist!“ oder „Hi, schreib doch mal zurück“. Na super, dachte ich, hat sich ja gelohnt, mein Profil so gewissenhaft auszufüllen. Seit der Anmeldung bis zum vierten/fünften Tag erhielt ich „Post“ im Stundentakt. Aber was soll ich auf ein „schön, dass du da bist“ auch schon antworten? – „find’ ich nicht, da ich auf der Suche bin“?! Das würde zu „störrisch“ und „dickköpfig“ rüberkommen. Ein paar Interessenten schrieben doch tatsächlich etwas zu meinem Profil-Inhalt. Na, denen antworte ich natürlich. Ich bin kein Freund von langem Hin- und Herschreiben und einige Herren wohl auch nicht, also wurden schnell Treffen vereinbart, denn in live kann ja viel schneller geprüft werden, ob die Chemie passt.

Nun war heute mein drittes Treffen, mit drei unterschiedlichen Männern, aber eine Gemeinsamkeit hatten doch alle drei: Alle wären beim ersten Treffen mit mir ins Bett gegangen. Ich fühlte mich regelrecht als „die Spielverderberin“ oder als „die Prüde vom Lande“. Ich war vor circa 15 Jahren schon mal auf einer Online-Dating-Seite angemeldet, da war ich Anfang 20; da war DAS nicht so ein zentrales und vor allem nicht so ein schnelles Thema. Liegt das heute an unserem „fortgeschrittenen“ Alter? Ist ES jetzt, mit Mitte 30, nichts mehr, was mit Vertrauen, Geborgenheit und mit gemeinsamen Interessen mehr zu tun hat? Ist DAS schon so normal geworden, dass ich ES mit jemandem mache, mit dem ich gerade 40 Minuten spazieren gegangen bin? Bin ich prüde, weil mir Sex nicht so wichtig ist? Oder hatte ich noch gar keinen richtig guten Sex, sodass ich jetzt darauf nicht total „heiß“ bin, fast egal, mit wem?

Alle drei Männer waren über meine Reaktion/Ablehnung verdutzt, weil „wenn der Sex nicht gut ist, dann wird die Beziehung auch nicht gut“. Wo sind hier Gemeinsamkeiten, außer dass man zusammen Sex hat? Ist es nicht eher so, dass man/frau jemanden in den verschiedensten Situationen kennenlernt (zusammen kochen, zusammen Sport machten, zusammen zur Montagsdemons­tration gehen, zusammen Freunde besuchen usw.) und dann ein Vertrauen und eine Gewissheit spürt, dass man nun auch das Bett zusammen teilen kann?

Jetzt darf ich natürlich nicht nur auf die Männer böse oder über deren Verhalten absolut verwundert sein. Es hat ja System, wie das Profil aufgebaut und auszufüllen ist. Dein privates Leben umfasst ja (lt. Profil) deinen Körperbau, Beruf, Religion und Kinderwunsch, aber die politische Seite vom Menschen wird völlig negiert, als gäbe es gar kein Thema „Politik“. Auch, dass der Sex so groß im Raum steht, hat was damit zu tun, dass unser kleines, bescheidenes Leben nur aus Arbeiten, Familie/Beziehung, Freunde und Hobbys bestehen soll. Dann musst du dich, als Frau besonders, aber noch darum kümmern, dass du gut aussiehst und der Sex das größte Highlight wird. Aber selbst wenn ich nicht politisch aktiv bin, selbst dann wäre mir doch diese Art von Leben und diese Art von Kennenlernen zu klein, oder habe ich da einen zu hohen Anspruch?

Sollen politisch aktive Menschen nicht auf einer Online-Dating-Seite nach einem Partner suchen, weil ihre Ansprüche allseitiger sind, oder hatte ich nur dreimal Pech? Oder soll auf „die Liebe“ geduldig gewartet werden, ob sie einem zufällig über den Weg läuft, oder sollten wir es selber in die Hand nehmen?

Ich bereue nicht, die Erfahrung gemacht zu haben – aber ich habe mich gefragt, ob ich nun prüde, anormal oder ganz normal bin. Da ich glaube, dass viele Frauen (und evtl. auch Männer) beim Kennenlernen dieser Situation ausgesetzt sind, dachte ich, ich schreib’ darüber mal – wie Carry aus der TV-Serie „Sex and the City“ nach dem dritten Date einen Zeitungs­artikel, um meine Gedanken möglichst vielen mitzuteilen.

Mittlerweile kann ich mir die Frage, ob ich prüde, anormal oder ganz normal bin, selber beantworten: Ich bin ganz normal! Ich freue mich auf die nächste Beziehung. Ich möchte allen Singles da draußen Mut machen, sich nicht aus moralischem Zwang zu was hinreißen zu lassen, was sie eigentlich nicht wollen. Lass dir nicht einreden, dass Sex die größte Rolle im Leben spielt und dass dieser noch vor der Beziehung getestet werden muss. Wenn die Beziehung toll ist, dann wird das „Liebe machen“ auch zur schönsten Sache!

(Korrespondenz)

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