Der Zappelphilipp leidet an der Deformation der Umwelt, in der er lebt!
Diplom-Psychologe Traugott Nassauer zu ADHS, Teil 2
In RF 28/14 erschien ein Artikel über die Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung – kurz ADHS, im Volksmund manchmal auch „Zappelphilipp“ genannt. Unter der Überschrift: „Kinder und Jugendliche im Fadenkreuz von Pharmakonzernen“ hat der Artikel zu einer lebhaften Diskussion geführt, zu der ich als praktisch tätiger Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut auch Stellung nehmen will. Der 1. Teil in RF 3/2015 befasste sich mit der komplexen Wechselwirkung von Umweltfaktoren und der Krise der bürgerlichen Familienordnung, die heute bei 20 Prozent der Kinder „Auffälligkeiten“ erzeugt. Ich habe die Notwendigkeit von pädagogischen und vor allem politischen Antworten dargelegt.
Die medikamentöse Behandlung von ADHS, die Folgen und Konsequenzen
Durch eine zunehmende Unverträglichkeit von Kapitalismus und Anforderungen des Lebens ist es in den letzten Jahrzehnten zur massiven Zunahme von Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen gekommen. Darauf bin ich in dem ersten Teil des Artikels eingegangen. Betrachtet man die Geschichte der ADHS-Diagnostik, fällt eine erschreckende Unwissenschaftlichkeit auf, dafür aber umso mehr Profitstrategie.
Im Rahmen einer Fachtagung der Deutschen Gesellschaft für soziale Psychiatrie (DGSP) hielt Prof. Dr. Peter Schönhöfer im November 2013 einen Vortrag mit dem Titel „Arzneimittel gegen ADHS – was sie leisten und wie sie vermarktet werden“. Hierin führt er unter anderem aus: „Gefördert und massiv stimuliert wurde die ADHS-Diagnostik durch Heilversprechungen der Firma Novartis für ihr amphetaminartig wirkendes Methylphenidat (Ritalin). Amphetamine … waren im 2. Weltkrieg auf allen Seiten bei Soldaten zur Verlängerung der Wachphase, zur vermeintlichen Leistungssteigerung oder zur Euphorisierung eingesetzt worden. Novartis hat seine Variante Methylphenidat 1954 auf den Markt gebracht und als Wachmacher, Leistungssteigerer, Neuroenergizer und Neuroenhancer mit mäßigem Erfolg vermarktet. In den 70er Jahren wurde durch gravierende Zwischenfälle erkannt, dass (solche Medikamente) im unreifen kindlichen ZNS nicht wie zu erwarten stimulierend, sondern dämpfend wirken … Symptome kindlicher Stressbelastung wie Unruhe, Erregung, Wutanfälle oder Bewegungsdrang wurden eher gedämpft als verstärkt. So wurde vom Novartis-Marketing in den 1980er Jahren die Idee geboren, Kinder mit präpubertären Hyperkinesen mit Ritalin zu behandeln, um für das eine eigene Indikation suchende Produkt einen lukrativen Markt zu erschließen.
Der Durchbruch wurde 1999 mit der MTA-Studie erreicht. In dieser klinischen Studie wirkte Ritalin so gut wie Psychotherapie oder sogar besser dämpfend auf Hyperkinesen bei ADHS-Kindern. Das führte zu einem explosionsartigen Anstieg der ADHS-Diagnosen und Ritalin-Verordnungen.“
Seitdem hat es viele Studien gegeben, die fast alle Hersteller-finanziert sind und sich vor allem mit den kurzfristigen Wirkungen von Methylphenidat beschäftigen. Sie zeigen, dass die genannten Symptome abnehmen, dass die Wirkung allerdings nach Absetzen des Medikamentes wieder verloren geht. Über langfristige Risiken einer solchen Medikamentierung wird nicht geforscht.
Schönhöfer stellt fest: „Es fehlen unabhängige kontrollierte Studien zu Missbrauch und Abhängigkeit von Methylphenidat bei ADHS-Patienten sowie zu den typischen Amphetamin-bedingten Störwirkungen, die sich in Krampfanfällen sowie psychischen Störwirkungen wie Aggressivität, Suizidalität, Panikattacken, Psychosen, Verfolgungswahn, Depression, aber auch in körperlichen Symptomen wie Anorexie, Sehstörungen, Bluthochdruck, Herzschmerzen, plötzlichem Herztod … ausprägen können.“
Schönhöfer sieht vor allem drei kritische Punkte:
1. Methylphenidat darf wegen der Gefahr der Wachstumshemmung auf keinen Fall an Kindern im Vorschulalter (unter 6 Jahren) verordnet werden.
2. Es gibt Hinweise, dass Methylphenidat Veränderungen im ZNS hervorruft, z. B. den Untergang dopaminerger Neurone, die eine wichtige Rolle bei der Weitergabe von Informationen von einer Nervenzelle zur anderen spielen. Ähnliche Erscheinungen findet man bei Parkinson-Kranken. Außerdem fand man heraus, dass Parkinson-Erkrankungen bei Menschen mit chronischem Gebrauch von Amphetaminen um 60 Prozent häufiger waren als bei Menschen, die dies nicht nutzen.
3. In Tierversuchen ergaben sich Hinweise, dass es unter Methylphenidat zu einer Hemmung der Hirnreife kommt.
Besondere Gefahren sieht Schönhöfer bei der Behandlung von ADHS durch das Atomoxetin (Strattera) der Firma Eli Lilly. Dieses Medikament sei dem hauseigenen SSRI-Antidepressivum Fluoxetin strukturell verwandt: „Wie Fluoxetin scheint es häufiges aggressives oder manisches Verhalten zu fördern, mitunter auch explosive Feindseligkeit wie Amoklauf, Totschlag oder Suizid. Darüber hinaus werden auch kardiovaskuläre Risiken (Herztod), Wachstumshemmungen bei Kindern und Leberschäden beobachtet.“
Allerdings besitzt Strattera im Moment eine deutlich geringere Markt-Bedeutung als Methylphenidat (Ritalin, Medikenet, Concerta etc.). Seit Methylphenidat in breitem Maße bei Kindern und Jugendlichen angewendet wird, nimmt allmählich auch die Beobachtung von ADHS-Symptomen bei Erwachsenen zu.
„Deutet sich darin eine durch chronischen Amphetamingebrauch ausgelöste persistierende Störung der Hirnreifung auch beim (erwachsenen) Menschen an“, fragt sich Schönhöfer.
Was bedeuten diese kritischen Überlegungen und Befürchtungen?
1. Die durch eine gesellschaftliche Fehlentwicklung ausgelöste Zunahme von Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen wird dazu genutzt, sich einen weltweiten milliardenschweren Pharmamarkt zu schaffen, was vor allem von international agierenden Monopolen wie Novartis vorangetrieben wird.
2. Diese Marktstrategie wird scheinbar wissenschaftlich untermauert durch von diesen Pharmakonzernen gesponserte Studien, die eine rein symptomorientierte „neue Störung“ kreieren, die dann wiederum rein symptomorientiert durch Psychopharmaka behandelt werden soll.
3. Langfristige gesundheitliche Gefahren werden geleugnet. Trotz vieler ernstzunehmender Hinweise werden dazu notwendige Studien nicht finanziert.
4. Um den Markt möglichst groß zu machen, muss diese „Störung“ bei immer mehr Kindern und Jugendlichen diagnostiziert werden. Ein neuer Markt deutet sich bei Erwachsenen an. Außerdem gibt es eine Tendenz, diese Medikamentengruppe bei „Gesunden“ anzuwenden, z. B. Studenten im Prüfungsstress, wo sie verharmlosend als Neuroenhancer (Verbesserung von Hirnleistungen) bezeichnet werden.
5. Es ist nicht auszuschließen, dass der millionenfache chronische Gebrauch dieser Medikamentengruppe Störungen körperlicher und psychischer Art bzw. deren Chronifizierung hervorrufen, was wiederum zur Ausweitung des Marktes der Pharmakonzerne führt.
Internationale Konzerne machen sich also durch Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen hervorgerufene psychische Not von Kindern und Jugendlichen und auch von Erwachsenen zunutze, um ihren Maximalprofit zu steigern, um dann mit den daraus resultierenden Folgen noch einmal ihren Markt ausweiten zu können. Perverser kann „Gesundheitsförderung“ nicht aussehen.
Medikamente nicht grundsätzlich ablehnen!
All diese Überlegungen bedeuten nicht, dass es nicht Kinder gäbe, die eine medikamentöse Behandlung brauchen. Eine sehr geringe Zahl von Kindern (vielleicht unter ein Prozent) ist in einem solch desorganisierten Zustand, dass sie ohne medikamentöse Unterstützung für therapeutische Maßnahmen nicht mehr ansprechbar sind. Hier muss die Medikation zeitlich so gut es geht begrenzt werden. Die Dosis muss ausreichend sein, damit die Kinder pädagogisch und therapeutisch wieder ansprechbar werden, aber doch so gering, dass durch therapeutische Maßnahmen eine Hirnreifung wieder möglich wird. Eine solche zurückhaltende Medikation und das Setzen auf hauptsächlich therapeutische und pädagogische Maßnahmen würden den Markt und damit die Profite der Pharmakonzerne natürlich ganz erheblich schmälern.
Unbedingt erforderlich ist auch, dass in großem Umfang wissenschaftliche Studien finanziert werden, die sich mit den langfristigen Wirkungen dieser Medikation beschäftigen. Natürlich dürfen solche Studien nicht durch Pharmakonzerne kontrolliert werden. Wir brauchen aber vor allem eine grundsätzliche Lösung!
Wir erleben eine kapitalistische Gesellschaft, in der sich internationale Monopole mit großer politischer Macht die körperliche und seelische Not von Menschen zunutze machen, um hieraus Maximalprofite zu generieren. Der Kapitalismus, der gnadenlos alles dem Maximalprofit der internationalen Konzerne unterordnet, kann nur zu solchen perversen Konsequenzen führen. Unter wirklich sozialistischen gesellschaftlichen Verhältnissen wird Gesundheitsvorsorge an erster Stelle stehen und damit die Beseitigung krankheitsauslösender Faktoren. In dieser werden die Wirkungen von Medikamenten allseitig und vor allem langfristig untersucht werden und allseitige Wege gefunden werden müssen, um Kindern und Jugendlichen und auch Erwachsenen wieder eine möglichst vollständige Teilnahme am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen.