Wie man antikommunistische Vorurteile erzeugt

Der sowjetische Strafvollzug als Highlight der psychologischen Kriegsführung gegen den Kommunismus (Teil 1)

Kaum ein anderer Bestandteil der antikommunistischen Propaganda hat über Jahrzehnte eine solche Wirkung erzeugt wie die dramatische Darstellung des Strafvollzugs in der sozialistischen Ära der Sowjetunion zur Zeit Stalins. Gulag – das lässt Menschen einen Angstschauer über den Rücken rieseln, an die Vernichtungslager des Hitlerfaschismus denken und den Sozialismus als Regime von Arbeitslagern und Zwangsarbeit erscheinen. Eine solche Verbindung oder gar Gleichsetzung widerspricht völlig den Tatsachen.1

Zuallererst muss man feststellen, dass hinsichtlich der Anzahl der Strafgefangenen in der Sowjetunion in geradezu ungeheuerlichem Maß übertrieben wurde und heute noch wird. Damit wird sich der zweite Teil des Artikels in der nächsten „Rote Fahne“ befassen. Im ersten Teil geht es zunächst vor allem darum, dass der Strafvollzug im Sozialismus gegenüber dem kapitalistischen Gesellschaftssystem vollkommen unterschiedliche Ziele und Zwecke hatte.

Gulag“ bedeutet nichts anderes als die russische Abkürzung für „Hauptverwaltung Lager“. Die Heranziehung verurteilter Straftäter zu gesellschaftlich nützlicher Arbeit war eine fortschrittliche Maßnahme der sozialistischen Sowjetunion. 1929 hatte das Politbüro des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei beschlossen, alle Häftlinge, die Freiheitsstrafen von drei und mehr Jahren zu verbüßen hatten, in die sogenannten Lager für Umerziehung und Arbeit zu überstellen. Entsprechend den geographischen Besonderheiten des Landes sollten diese auch in entlegenen Regionen eingerichtet werden, um sie zu erschließen und die vorhandenen Bodenschätze zu fördern. Häftlinge mit Freiheitsstrafen unter drei Jahren sollten im Zuständigkeitsbereich der Innenministerien (NKWD) der Unionsrepubliken verbleiben und in Arbeitskolonien für Tätigkeiten in der Landwirtschaft und Industrie herangezogen werden. Für den Strafvollzug der langjährigen Häftlinge war der Staatssicherheitsdienst (OGPU) verantwortlich.

Diese Vorgehensweise wurde in der Sowjetunion breit propagiert und von den Massen unterstützt. So verglich beispielsweise das 1934 in deutscher Übersetzung veröffentlichte Buch „Das politische Grundwissen“ im Kapitel über das sowjetische Wirtschaftssystem „Die Arbeit in den kapitalistischen Ländern und die Arbeit in der UdSSR“. Dazu hieß es: „Unter dem Kapitalismus … wird die Arbeit … zu einer schweren Last … Einzig und allein in der Sowjetunion wurde die Arbeit zum ersten Male zu einer Sache der Ehre, des Ruhms, des Heldentums … Nur in einem sozialistischen Lande ist eine Umerziehung durch Arbeit möglich, wie z. B. jene, die durch den Bau des Weißmeerkanals 12.484 ehemalige Verbrecher gebessert und für den sozialistischen Aufbau nützlich gemacht hat.“2

2007 schilderte der britische Historiker Orlando Figes in seinem antikommunistischen Bestseller „Die Flüsterer“ – wenn auch mit abwertender Polemik –, wie sich 36 führende Schriftsteller der Sowjetunion, dazu angeregt von Maxim Gorki, mit dem Thema befassten.

Er zitierte Michail Soschtschenko, der von seiner Reise auf dem Weißmeerkanal berichtete: „Mein Interesse galt Menschen, die ihr Leben auf Trägheit, Betrug, Diebstahl und Mord begründet hatten, und ich widmete meine ganze Aufmerksamkeit dem Thema ihrer Umerziehung. Ehrlich gesagt, zuerst war ich skeptisch und nahm an, dass die berühmte Umschmiedung schlicht eine zynische Ausdrucksform des Verlangens der Häftlinge nach Freiheit oder Vergünstigungen sei. Aber ich muss zugeben, dass ich mich in dieser Hinsicht geirrt habe. Ich erlebte Fälle von unverfälschter Umerziehung. Ich sah wirklichen Stolz bei den Bauarbeitern und stellte einen realen Wandel in der Psyche vieler dieser Genossen (wie wir sie nennen dürfen) fest.“3

Ergänzend muss man festhalten, dass sich für die ungeheuren Aufgaben, die sich bei der Umwandlung der Sowjetunion in ein fortschrittliches Industrieland stellten, Hunderttausende, vor allem Jugendliche, freiwillig meldeten. In entlegenen Gebieten arbeiteten oft „freie Arbeiter“ gemeinsam mit den Häftlingen unter härtesten Bedingungen für den sozialistischen Aufbau. Der Grad der Mechanisierung der Arbeit war in der Sowjetunion anfangs sehr niedrig. Viel Handarbeit war notwendig. Die Unterbringung der Menschen primitiv. Trotzdem sind sie mit viel Enthusiasmus an die Arbeit gegangen, haben die Arbeitsmethoden ständig verbessert, Wettbewerbe organisiert und sind Selbstverpflichtungen eingegangen. Julius Fucik, der 1930 in der Sowjetunion war und ein Gefängnis bei Moskau besuchte, berichtet, dass die Häftlinge im Gefängnis arbeiten, zur Schule gehen oder eine Ausbildung machen. Dass die Zahl von Straftätern in der Sowjetunion zurückgeht.4

Probleme bei der Umsetzung

Die Organisierung des Strafvollzugs erwies sich allerdings als äußerst schwierig. Das hatte verschiedene Gründe: Dazu gehören erstens die Verschärfung des Klassenkampfs im Inneren des Landes in einer „zweiten Revolution“ zur Kollektivierung der Landwirtschaft5 seit 1929, zweitens die imperialistische Einkreisung der Sowjetunion, die sich nach dem Machtantritt des Faschismus in Deutschland 1933 zuspitzte, und drittens vor allem der deutschen Überfall im II. Weltkrieg 1941.

Bei den Häftlingen handelte es sich keineswegs mehrheitlich um politische Gegner des Sozialismus. Die antikommunistische Propaganda suggeriert, es habe im Gulag lauter ehrbare politische Häftlinge, Widersacher Stalins, gegeben. In Wahrheit waren 75 bis 80 Prozent „gewöhnliche“ Kriminelle, die hier resozialisiert werden sollten. Die politischen Häftlinge waren Konterrevolutionäre, die die sozialistische Arbeitermacht beseitigen wollten. Unter ihnen gab es allerdings auch zu Unrecht Verurteilte. In zweierlei Hinsicht – gesamtgesellschaftlich und im Apparat des Staatssicherheitsdienstes – zeigte sich hier das Problem der Bürokratie. „Es ist notwendig, zunächst einen neuartigen Verwaltungsapparat mit einer entsprechenden Bürokratie zu schaffen“, stellt das Parteiprogramm der MLPD im Kapitel „Der Sozialismus als gesellschaftliches Ziel“ fest. „Damit diese gesellschaftlichen Aufgaben im Dienst der Massen durchgeführt werden, muss die sozialistische Gesellschaft ein System der Selbstkontrolle verwirklichen. Der Klassenkampf der Arbeiterklasse muss sich auf die Kontrolle der Denkweise der Verantwortlichen in der Leitung der Wirtschaft, des Staates und der Partei beziehen.“6

Diese Aufgabe konnte in der sozialistischen Ära der Sowjetunion nur in Ansätzen verwirklicht werden. Es gelang der kommunistischen Partei nicht, das Problem der Weiterführung des Klassenkampfs im Sozialismus richtig zu lösen. Im Kampf gegen konterrevolutionäre Bestrebungen stützte man sich einseitig auf den verbürokratisierten Geheimdienst. Als Folge traten schlimme Fehler auf und konnte es sogar zu Verbrechen kommen. Ehrliche Kommunisten wurden als Staatsfeinde verleumdet, viele von ihnen zum Tode verurteilt und hingerichtet. Stalin und die Parteiführung mussten erkennen, dass sich, ausgehend von kleinbürgerlichen Bürokraten, eine willkürliche Methode von falschen Beschuldigungen und Verleumdungen ausgebreitet hatte, und stoppten das Vorgehen. Jeschow, der verantwortliche Leiter des NKWD, wurde wegen dieser Verbrechen verurteilt und hingerichtet. Es gehört zu den zahlreichen Verleumdungen, wenn „Geschichtsexperten“ wie etwa der ZDF-Historiker Guido Knopp behaupten, Stalin selbst sei Initiator der Willkürmaßnahmen gewesen.

Ein Zeitzeuge berichtet

Der zu Unrecht verurteilte deutsche Kommunist Rudolf Hamburger, der nach dem Krieg in der DDR als Architekt arbeitete, schilderte, welche Folgen die Bürokratisierung bei der Organisierung der Lager selbst hatte. Die Verwaltung bediente sich der kriminellen Häftlinge, sodass das Ziel der Umerziehung ad absurdum geführt wurde: „Die Kriminellen. Die meisten im Raum sind Kriminelle. Draußen begingen sie Gewalttaten und hinter Gittern setzen sie ihr Werk fort. In meiner Nähe befinden sich sechs oder acht handfeste Burschen, die aussehen, als ob sie keine Gewalt scheuen. Sie können Menschen tyrannisieren, Gefangene im Besitz von Lebensmitteln, die sie von zuhause geschickt bekamen, berauben, von Rauchern dreist Machorka fordern, Schlägereien provozieren. Sie werden uns noch oft das Leben zur Hölle machen … Mit geballten Fäusten muss ich jede Nervenfaser, jeden Gedanken disziplinieren, damit Emotionen nicht die festen Fundamente meiner Weltanschauung unterspülen.“7

 

Im 2. Teil in „Rote Fahne“ 5/2015: Panikmache durch Zahlen und die Ursache ihrer Wirksamkeit

 

1 „Was sich (…) strikt verbietet, ist eine die deutsche Geschichte verharmlosende Gleichsetzung sowjetischer Arbeitslager mit deutschen Vernichtungslagern, in denen Alte, Kranke, Schwache, Juden, Kommunisten vergast wurden wie Ungeziefer.“ Eckehard Spoo http://www.sopos.org/aufsaetze/4fc0bc9642171/1.phtml

2 B. Wolin, Das politische Grundwissen, Verlagsgenossenschaft ausländischer Arbeiter in der UdSSR, Moskau 1934; Nachdruck Berlin 1970, S. 36/37

3 Zitiert in: Orland Figes, Die Flüsterer, Berlin 2008, S. 297. Als „Flüsterer“ der besonderen Art erwies sich Figes selbst im Jahr 2010, als er unter falschem Namen im Internet die Veröffentlichungen konkurrierender Historikerkollegen zu diskreditieren versuchte.

4 Julius Fucik, Eine Welt, in der das Morgen schon Geschichte ist. Paul List Verlag Leipzig 1952, S. 305–314

5 siehe dazu: Die Kollektivierung in der Sowjetunion – antikommunistische Mythen und die tatsächliche Erfolgsstory („Rote Fahne“ 24 und 28/2014)

6 Programm der Marxistisch-Leninistischen Partei, Essen 2000, S. 38

7 Rudolf Hamburger, Zehn Jahre Lager. Als deutscher Kommunist im sowjetischen Gulag. Ein Bericht, München 2013, S. 40

8 The Amerikan Historical Review, Aus- gabe 4 vom Oktober 1953 – mehr dazu im Teil 2 des Artikels

Artikelaktionen

MLPD vor Ort
MLPD vor Ort Landesverband Nord Landesverband Nordrhein-Westfalen Landesverband Ost Landesverband Rheinland-Pfalz Hessen Saarland Landesverband Baden-Württemberg Landesverband Bayern Landesverband Thüringen
In Deutschland ist die MLPD in über 450 Städten vertreten.
Hier geht es zu den Kontaktadressen an den Orten.
Mehr...
Spendenkonto der MLPD
  • GLS Bank Bochum
  • BIC: GENODEM1GLS
  • IBAN: DE76 4306 0967 4053 3530 00