Merkwürdigkeiten im Stuttgarter NSU-Untersuchungsausschuss
Von Beginn an berichtet die „Rote Fahne“ aktuell und laufend direkt aus dem Stuttgarter Untersuchungsausschuss in Sachen NSU. Der „Nationalsozialistische Untergrund“ (NSU) war eine offen neofaschistische Terrorgruppe, die in den Jahren 2000 bis 2006 mit Unterstützung aus Teilen des Staatsapparats neun Morde und eine Reihe von Bombenanschlägen verübte. Florian Heilig, ein wichtiger Zeuge, kam unter mysteriösen Umständen ums Leben.
Im Jahr 2013 machte ein Brandsachverständiger des baden-württembergischen Landeskriminalamts bei seiner Untersuchung des ausgebrannten Autos von Florian Heilig auf einen kaum beschädigten Laptop und ein Feuerzeug aufmerksam. Allerdings wurden diese Beweisstücke von den Ermittlern nicht weiter beachtet und erst durch die Familie von Florian Heilig 2015 dem Untersuchungsausschuss „Rechtsterrorismus/NSU BW“ übergeben. Ein typischer Fall von schlampigen Ermittlungen?
Zu diesem Schluss kam zumindest der Südwestrundfunk zusammen mit dem Vorsitzenden des Untersuchungsausschusses, Wolfgang Drexler (SPD), in der „Landesschau“ vom 13. April. Am nächsten Tag berichteten dann viele bürgerliche Medien von angeblich schlampiger Ermittlungsarbeit im Zusammenhang mit dem Tod von Florian Heilig am 16. September 2013. Und das, obwohl eine Polizeioberkommissarin bei ihrer Vernehmung vor dem Untersuchungsausschuss am 13. April aussagte, sie habe am 16. September 2013 alle Gegenstände im Auto fotografiert, in dem Florian Heilig verbrannt war.1 Aber davon berichteten viele Medien nichts.
Andererseits hat ein Fahrlehrer, der sich am Morgen des 16. September 2013 in der Nähe des Tatorts befand, außer einer Person auf dem Fahrersitz neben dem intakten Auto eine zweite Person mit kräftiger Figur gesehen, deren Alter er nicht mehr eindeutig bestimmen konnte. Erst nachdem das Auto ausgebrannt war, kam dann der Fahrlehrer wieder an den Tatort und meldete seine Beobachtungen an Ermittlungsbeamte. Die versicherten ihm: „Es kommt noch jemand auf Sie zu.“ Die Frage des Ausschussvorsitzenden, ob dann tatsächlich jemand auf ihn zugekommen sei, verneinte der Fahrlehrer.2 Auch das wird in der „Landesschau“ am Abend der Untersuchungsausschuss-Sitzung und am nächsten Morgen von der Masse der bürgerlichen Massenmedien verschwiegen. Das hätte wohl zum Bild der „schlampigen Ermittlungen“ nicht so recht gepasst. Andererseits hätte diese Meldung auch zu weiteren Zweifeln am angeblichen Suizid von Florian Heilig führen können.
„Die Polizeiermittlungen auf ‚Schlamperei‘ zu reduzieren, gehört meines Erachtens hinterfragt. Es stellt sich doch die Frage, werden hier nicht sorgfältig und überhaupt nicht schlampig die Neonazis in Baden-Württemberg … vor Ermittlungen und/ oder vor Inhaftierung geschützt“, meint ein Antifaschist über den Zweck einer solchen Irreführung der öffentlichen Meinung.3 Andererseits sollen so wohl auch Fragen nach strukturellen Verbindungen zwischen „Verfassungsschutz“ und faschistischem Terror gar nicht erst aufkommen.
Als letzter Zeuge trat dann am 13. April 2015 vor dem Untersuchungsausschuss der Leiter des Heilbronner Staatsschutzes, Polizeihauptkommissar Klaus Bretzel, auf. Lediglich eine „rechtspopulistische Szene“ könne er im Raum Heilbronn erkennen, gab er während seiner Vernehmung zu Protokoll. Erst auf Nachfrage des Ausschussvorsitzenden erklärte Bretzel, dass es sich bei der NPD um eine Nazipartei handele. Demnach ist die ehemalige faschistische Gruppierung „Standarte Württemberg“ auch „rechtspopulistisch“? Diese Gruppe hatte sich 2010 gebildet und wurde 2011 verboten. Ihr gehörten auch Neonazis im Heilbronner Raum an. „Ein Ziel der Organisation war die Vertreibung von Ausländern aus Deutschland, auch unter Anwendung von Waffengewalt.“ Seit 2011 wird gegen Angehörige der „Standarte“ ermittelt, ohne dass es bisher auch nur zu einer Anklage gekommen wäre.4 Die ehemalige Freundin von Florian Heilig mit dem Pseudonym „Bandini“ berichtete bereits 2014 von Erkenntnissen ihres toten Freundes über die „Neoschutzstaffel“ (NSS): Diese Gruppierung gehört „eigentlich zur ‚Standarte Württemberg‘ …“ Der Name NSS sei lediglich eine interne Bezeichnung für die „Standarte“ gewesen, die auf die SS anspielt. Florian Heilig hatte das von Mathias Klabunde alias „Matze“ und meldete den Ermittlungsbehörden ein Treffen der NSS mit dem NSU vor der Ermordung von Michèle Kiesewetter.5 (Die „Rote Fahne“ 14/2015 berichtete.)
Allerdings behauptete Staatsschützer Bretzel am 13. April 2015, Florian Heilig sei ein Mensch mit vielen Problemen gewesen, der angeblich „… noch keine Stelle im Leben hatte.“6 Dagegen hatte eine andere Freundin an anderer Stelle ausgesagt, Florian Heilig sei kurz vor seinem gewaltsamen Ende ein optimistischer Mensch mit Zukunftsplänen gewesen. Will Bretzel mit seiner Äußerung nahelegen, man solle Heiligs Aussagen besser nicht trauen?
Der Stuttgarter NSU-Ausschuss tut gut daran, auf Einschätzungen wie „schlampige Ermittlungen“ zu verzichten und fragwürdige Beurteilungen von Florian Heilig kritisch zu hinterfragen.
1 Eigene Mitschrift von der Untersuchungsausschuss-Sitzung vom 13. 4. 15
2 Eigene Mitschrift vom 13. 4. 2015
3 E-Mail vom 15. 4. 2015
4 Polizeibericht 2011 des LKA Baden-Württemberg „Politische Kriminalität“
5 Wolf Wetzel „,Immer die Waffen fotografiert‘ – Aussagen der Freundin des toten Heilig liegen dem Stuttgarter Untersuchungsausschuss vor“ in: „Junge Welt“, 13. 4. 15. – Wetzel beruft sich dabei offenbar auf ein Gespräch des „ZentralOrganBayern“ mit „Bandini“, veröffentlicht am 14. 4. 2015
6 Eigene Mitschrift vom 13. 4. 2015