Der Kollaps des westantarktischen Eisschilds ist unaufhaltsam geworden
Luftaufnahme der Zunge des Thwaites-Gletschers, foto: NASA
Schon 1995 lebten rund 60 Millionen Menschen auf Landflächen, die weniger als einen Meter über dem Meeresspiegel liegen. Sie müssten bei diesem Meeresspiegelanstieg also umgesiedelt werden. Wie stark die Menschheit insgesamt betroffen sein wird, zeigt die Tatsache, dass heute etwa die Hälfte der Weltwirtschaftsleistung in Küstenstädten erbracht wird.
Als Aufsetzlinie (englisch: Grounding line) eines in das Meer fließenden Gletschers bezeichnet man die Linie, bis zu der er auf dem Meeresbo-den aufliegt. Jenseits davon schwimmt er als Eisschelf im Meer (siehe Bild 2). Der NASA-Forscher Eric Rignot fand nun zusammen mit Kollegen mittels vom Satelliten gemessener Radardaten heraus1, dass die Aufsetzlinien aller großen in die Amundsen-See mündenden Gletscher sich immer weiter Richtung Festland zurückziehen. Der Rückzug im Zeitraum von 1992 bis 2011 betrug 10 Kilometer beim Haynes-Gletscher, 14 Kilometer beim Thwaites-Gletscher (Bild 3), 31 Kilometer beim Pine-Island-Gletscher und 35 Kilometer beim Smith- und Kohler-Gletscher.
Die Gletscher schmelzen hauptsächlich durch wärmeres Meerwasser von unten ab, was durch den immer weiter reichenden Kontakt mit dem wärmeren Meerwasser zunimmt. Außerdem lässt die Reibung durch den verringerten Kontakt mit dem Boden nach. Dadurch beschleunigt sich der Fließ- und Schmelzprozess weiter. Bei allen diesen Gletschern hat die Aufsetzlinie inzwischen einen unter dem Meeresspiegel liegenden Bergrücken überschritten und läuft nunmehr bergab. Diese Besonderheit der Topographie macht die Instabilität unaufhaltsam. Favier und seine Mitarbeiter haben diesen Prozess für den Pine-Island-Gletscher detailliert nachgewiesen.2
Bild 4 zeigt die Fließgeschwindigkeit der Gletscher hell-dunkel kodiert an. Je dunkler, desto schneller fließen sie Richtung Amundsen-See. Die gegenwärtigen Aufsetzlinien und die Grenzen zwischen den Gletschern sind darin als schwarze Linien eingezeichnet. Mouginot und Mitarbeiter3 kommen zu dem Schluss, dass der Eisverlust pro Jahr aller dieser Gletscher zusammen sich zwischen 1973 und 2014 um 77 Prozent erhöht hat. Eine weitere Studie von Sutterly und Kollegen4 berechnet diesen Verlust zwischen 2003 und 2011 auf 102 (± 10) Gigatonnen pro Jahr. Zur Veranschaulichung: das entspricht 63 Prozent der Masse des Mount Everest – pro Jahr.
Der fünfte Sachstandsbericht des Weltklimarats (IPCC) schreibt im ersten 2013 veröffentlichten Teil5: „… die Topographie des Felsenbetts der Antarktis ist so, dass beschleunigte Raten des Massenverlusts beim Rückzug des Eisschilds möglich sind. Ungefähr 3,3 Meter an äquivalentem globalen Meeresspiegelanstieg des westantarktischen Eisschilds liegt in einem Gebiet mit landeinwärts abfallendem Felsenbett auf, wodurch es möglicherweise dem Eisverlust durch die See-Eisschild-Instabilität unterliegt. Abrupter und irreversibler Eisverlust … ist möglich, aber das gegenwärtige Beweismaterial und Verständnis ist unzureichend, um eine quantitative Einschätzung zu treffen.“
Im Gegensatz zu dieser Aussage liegt für den Teil, der in die Amundsen-See fließt, spätestens mit den Arbeiten des Jahres 2014 ein sehr fundiertes Verständnis und Beweismaterial vor. Auch die in dem Zitat für noch nicht möglich erklärte quantitative Einschätzung erfolgte 2014. Joughin, Smith und Medley6 haben Modellrechnungen der Entwicklung des Thwaites-Gletschers durchgeführt. Die Modelle reproduzieren die vorliegenden Messdaten gut. Sie zeigen, dass eine frühe Phase des Kollapses bereits begonnen hat und in 200 bis 900 Jahren eine dramatische Beschleunigung dieses Prozesses eintreten wird. Modellrechnungen zusammen mit anderen Untersuchungen kommen zu der Prognose, dass unabhängig von den weiteren CO2-Emissionen in einem Zeitraum zwischen 200 und 900 Jahren ab heute der Kollaps des westantarktischen Eisschilds im Einzugsbereich der Amundsen-See vollzogen sein wird.
Anders als in der Westantarktis liegen die Verhältnisse auf Grönland. Hier nimmt die Albedo, der Anteil der Sonneneinstrahlung, der ins All zurück reflektiert wird, unter anderem wegen geringeren Schneefalls ab. Dies könnte auch zu einem beschleunigten Abschmelzen des Grönländischen Eisschilds führen7. Schmilzt es vollständig ab, so hat das einen Meeresspiegelanstieg von 7,2 Meter zur Folge. Die Entwicklung ist hier jedoch nicht unumkehrbar wie in der Westantarktis. Dort wird andererseits die Albedo wohl erst dann drastisch abnehmen, wenn die Gletscher im Bereich der Amundsen-See einmal verschwunden sind. Das wird dann befördern, dass die anderen Teile des westantarktischen Eisschilds dasselbe Schicksal erleiden und der Meeresspiegel dadurch um 3,3 Meter ansteigt.
In der Westantarktis ist ein Kipppunkt überschritten, auch wenn die Folgen in vollem Ausmaß erst in Hunderten von Jahren zu spüren sein werden. In der weiteren Entwicklung der globalen Umweltkatastrophe müssen wir mit noch weiteren solcher qualitativer Sprünge durchaus rechnen. Das unterstreicht die Dimension des Problems und die Dringlichkeit der Lösung der Umweltfrage, über die das Buch „Katastrophenalarm!“ schreibt8: „Die Lösung der Umweltfrage erfordert heute einen gesellschaftsverändernden Kampf. Nur eine internationale sozialistische Revolution kann die soziale und die ökologische Frage lösen.“ (uj)
1 E. Rignot, J. Mouginot, M. Morlighem, H. Seroussi, und B. Scheuchl (2014), „Widespread, rapid grounding line retreat of Pine Island, Thwaites, Smith, and Kohler glaciers, West Antarctica, from 1992 to 2011“, Geophys. Res. Lett., Band 41, S. 3502-3509, doi:10.1002/2014GL060140.
2 L. Favier, G. Durand, S. L. Cornford, G.H. Gudmundsson, O. Gagliardini, F. Gillet-Chaulet, T. Zwinger, A. J. Payne, und A.M. Le Brocq (2014), „Retreat of Pine Island Glacier controlled by marine ice-sheet instability“, Nature Climate change, Band 4, S. 117-121, doi:10.1038/nclimate2094.
3 J. Mouginot, E. Rignot, und B. Scheuchl (2014), „Sustained increase in ice discharge from the Amundsen Sea Embayment, West Antarctica, from 1973 to 2013“, Geophys. Res. Lett., Band 41, S. 1576-1584, doi:10.1002/2013GL059069.
4 T. C. Sutterley, I. Velicogna, E. Rignot, J. Mouginot, T. Flament, M. R. van den Broeke, J. M. van Wessem und C. H. Reijmer (2014), „Mass loss of the Amundsen Sea Embayment of West Antarctica from four independent techniques“, Geophys. Res. Lett., Band 41, S. 8421-8428, doi:10.1002/2014GL061940.
5 „Climate Change 2013 The Physical Science Basis“, Working Group I Contribution to the Fifth Assessment Report of the Intergovernmental Panel on Climate Change, Herausgegeben von Thomas F. Stocker, Dahe Qin und anderen: http://www.climatechange2013.org/ (Datei: WG1AR5_ALL_FINAL.pdf, Download 31.12.2014, Seite 100, eigene Übersetzung)
6 I. Joughin, B. E. Smith, und B. Medley (2014), „Marine Ice Sheet Collapse Potentially Under Way for the Thwaites Glacier Basin, West Antarctica“, Science, Band 344 Nr. 6185, S. 735-738.
7 J. E. Box, X. Fettweis, J. C. Stroeve, M. Tedesco, D. K. Hall und K. Steffen (2012), „Greenland ice sheet albedo feedback: thermodynamics and atmospheric drivers“, The Cryosphere, Band 6, S. 821-839, doi:10.5194/tc-6-821-2012
8 Stefan Engel, „Katastrophenalarm! Was tun gegen die mutwillige Zerstörung der Einheit von Mensch und Natur?“, Verlag Neuer Weg (März 2014), S. 9