Vorratsdatenspeicherung – für oder gegen wen?

Beim sogenannten „Kleinen Parteitag“ der SPD am 21. Juni stand es für SPD-Chef Sigmar Gabriel „Spitz auf Knopf“.

Ihm ging es als Vizekanzler darum, die Partei auf einen weiteren Bruch zentraler Wahlkampfversprechen einzuschwören: nach der Aufkündigung jeglicher Umweltschutzziele, der Zustimmung zum TTIP, dem Freihandelsabkommen mit den USA, sollte jetzt die aktive Unterstützung der „anlasslosen Vorratsdatenspeicherung“ folgen, mit der tief in bürgerlich-demokratische Grundrechte jedes einzelnen eingegriffen wird. Hier erscheint die Rolle der Regierung als willfähriger Dienstleister des allein herrschenden internationalen Finanzkapitals.

Großspurig war eine Befragung der Parteibasis zu diesem Vorhaben anberaumt worden, das der Koalitionsvertrag mit der CDU/CSU vorsieht. Mit für Gabriel höchst unerfreulichen Ergebnissen.

Elf von 16 Landesverbänden legten Widerspruch ein. Fast hundert SPD-Gliederungen, die sich gründlich mit dem Vorhaben befassten, sprachen sich explizit dagegen aus.(1)

Da brauchte es auf dem „Kleinen Parteitag“ schon eine massive Inszenierung. Gabriel ließ durchblicken, dass er die Lust am Mitregieren verlieren könne, wenn ihm die Zustimmung versagt wird. Die SPD-Generalsekretärin orakelte Entsprechendes. Und trotzdem stimmten von den 200 Delegierten nur 124 für, aber 88 gegen den Entwurf, sieben Delegierte enthielten sich.(2) Die latente Krise der SPD lässt sich mit solchen Durchmärschen nicht ausbügeln. Tatsächlich dokumentiert der „Kleine Parteitag“ die sich vertiefende Krise der SPD. Der Spagat zwischen ihrer Rolle als Regierungspartei und damit Dienstleister des Finanzkapitals und dem Versuch, ihr so­zia­les Image aufzuhübschen, gelingt immer weniger. Das ist der eigentliche Grund für die anhaltend niedrigen Umfragewerte.

Totalüberwachung der gesamten Bevölkerung

Mit dem geplanten Gesetz sollen die Verbindungsdaten aller Nutzerinnen und Nutzer der Telekommunikation gespeichert werden. Wer, wann, welche Telefonnummer angerufen, wem eine SMS geschickt, wer unter welcher IP-Kennung im Internet gesurft hat und wo er sich mit seinem Handy aufgehalten hat – all das soll erfasst und den „Strafverfolgern“ für Ermittlungen zur Verfügung gestellt werden. Diese sind verpflichtet, ihre Erkenntnisse an die Geheim­diens­te weiterzugeben. Damit wird eine Totalüberwachung der gesamten Bevölkerung zu jeder Zeit, an jedem Ort organisiert – und zwar ohne jeden Anlass, ohne konkrete Verdachtsmomente, geschweige denn richterlicher Genehmigung.

Als Aufhänger für das Gesetz hatte Sigmar Gabriel den Anschlag auf das Pariser Büro der Satire-Zeitschrift „Charly Hebdo“ genutzt und lauthals die Gefahren „terroristischer Angriffe“ beschworen.

Beruhigen soll die Ansage, dass bei der Datenspeicherung auf den E-Mail-Verkehr verzichtet werden solle, die Datenspeicherung auf zehn Wochen befristet werde und die Handy-Ortung sogar nach vier Wochen gelöscht werde.

Nur weiß jedes Kind, dass einmal gesammelte Daten nicht einfach wieder verschwinden. Bei der exklusiven Kumpanei zwischen dem deutschen Geheimdienst BND mit ihrem amerikanischen Gegenstück NSA kann darauf wirklich größtes Vertrauen gesetzt werden.

Gegenüber früheren Gesetzesvorhaben enthält der neue Entwurf sogar weitere Verschärfungen. Gespeichert werden auch die Daten von sogenannten Berufsgeheimnisträgerinnen und -trägern. Die Daten von Ärzten und Anwälten bleiben dann ebenso wenig vertraulich wie die Quellen von Journalisten – unvereinbar ist das mit deren Schweigepflicht oder der Pressefreiheit. Dagegen soll ein neuer Paragraf die Verwendung widerrechtlich erworbener Daten unter Strafe stellen – das richtet sich direkt gegen Whistleblower – also Menschen, die gesellschaftliche Missstände aufdecken.

Mission vorerst gescheitert

Aus dem Vorhaben der Großen Regierungskoalition, das Gesetz sang- und klanglos durchs Parlament zu schieben – möglichst noch vor der Sommerpause – wird erst einmal nichts.

Der Protest nimmt eine immer größere Breite an – weit über die Parteigrenzen hinweg.

Die Bundesbeauftragte für Datenschutz, Andrea Voßhoff (CDU), verurteilte den Entwurf ebenso eindeutig wie ihr Vorgänger Peter Schaar. Die Gewerkschaft ver.di protestierte unter dem besonderen Aspekt der Einschränkung der Pressefreiheit. Der Evangelische Kirchentag verabschiedete eine Protestresolution. Selbst der wissenschaftliche Dienst des Bundestages meldete „verfassungsrechtliche Lücken“ an.

Die vormalige Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) wirft ihrem SPD-Nachfolger Heiko Maas kosmetische Schönfärberei vor. Sie hatte als Justizministerin im Kohl-Kabinett dem „großen Lauschangriff“ die Zustimmung verweigert, der angeblich auch nur „der Bekämpfung der organisierten Kriminalität“ dienen sollte. Als sie damit keinen Erfolg hatte, trat sie konsequent zurück.

Hintergrund ist eine breite gesellschaftliche Ablehnung der staatlichen Bespitzelung. Nach einer Umfrage von Amnesty international lehnen 60 Prozent solche Dauerüberwachung grundsätzlich ab.(3)

Revolutionäre und fortschrittliche Kräfte im Visier

Auch jetzt schon gibt es eine staatliche – nicht selten auch illegale – Datensammelwut. Auf der Grundlage von abgehörten Telefonaten, Handyortungen, überwachten Kontenverbindungen usw. werden Angehörige der kurdischen Arbeiterpartei PKK vor den Kadi gezerrt. Als Beweismittel legt die Staatsanwaltschaft unter anderem sogenannte „stille SMS“ vor.(4)

Mit der Vorratsdatenspeicherung hätten wir weitere NSU-morde vermutlich verhindern können.“(5) Mit dieser Zweckpropaganda brachte Sigmar Gabriel bereits im April 2015 Experten, Datenschützer und die Öffentlichkeit gegen sich auf.

Tatsächlich werden „nicht einmal die vorhandenen Überwachungsmittel gegen den faschistischen Terror genutzt“, so ein NSU-Prozess-Experte ge­gen­über der „Rote Fahne“. „Im Gegenteil! Wenn jetzt die Überwachung mit der Vorratsdatenspeicherung verstärkt werden soll, hat das sicher nicht das Geringste mit dem Kampf gegen den Faschismus zu tun.“(6)

Auf das Verfassungsgericht warten?

Auch Grüne und Linkspartei äußern sich gegen die neuen Pläne. Problematisch sind die von ihnen verbreiteten Hoffnungen, mit Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht das Gesetz erneut stoppen zu können.

Dazu erklärte der Rechtsanwalt Frank Jasenski gegenüber der „Rote Fahne“: „Das Bundesverfassungsgericht hat im März 2010 das damalige Gesetz nicht prinzipiell abgelehnt, sondern seine ,konkrete Ausgestaltung‘ für verfassungswidrig und zu weitgehend erklärt. Ähnlich verhält es sich mit der Entscheidung des europäischen Gerichtshofs vom April 2014. Vorratsdatenspeicherung sei zwar grundsätzlich zur ,Bekämpfung schwerer Kriminalität‘ zulässig, aber die vorliegende Richtlinie halte den ,Grundsatz der Verhältnismäßigkeit‘ nicht ein und sei ein zu tiefer Eingriff in das Privatleben. Es wäre illusorisch, sich auf die Gerichte zu verlassen, wenn mit der Legalisierung der flächendeckenden Überwachung Schluss gemacht werden soll.“

Um das zu erreichen, ist die Entfaltung eines aktiven Massenwiderstands nötig. Systematisch muss dabei die Verharmlosung solcher Vorhaben entlarvt werden. In jedem Krimi nutzen tapfere Kommissarinnen und Kommissare Telefondaten, Handyortungen und E-Mail-Mitteilungen für die Verbrecherjagd. Das scheint schon Alltag und mancher glaubt noch, ihm könne das egal sein „so lange ich mir nichts zuschulden kommen lasse“.

Es geht bei diesen Totalüberwachungsplänen nicht nur um individuelle Persönlichkeitsrechte, die mit Füßen getreten werden. Es geht den staatli­chen Behörden um ganze Grup­pierungen, deren Verhalten und Bewegungsprofile sie beobachten wollen. Die flächendeckende Datensammlung wird systematisch ergänzt mit direkten Abhörmethoden, illegalen Zugriffen auf Computer und Netzwerke usw. So wurden schon vor einigen Jahren bei einer antifaschistischen Demonstration in Dresden sämtliche Handynummern der beteiligten Antifaschisten erfasst. Bei Demonstrationen werden die Kennzeichen der Autos der Anreisenden registriert, verdächtige Personen werden observiert und verdächtige Organisationen mit Spitzeln durchsetzt. Streiks oder Demonstrationen werden mit Personenerkennungen über biometrische Daten observiert.

Deshalb ist es auch eine Illusion, wenn die Piratenpartei auf Transparenten erklärt: „Demokratie funktioniert nur ohne Überwachung“. Der staatsmonopolistische Kapitalismus ist und bleibt eine Diktatur des allein herrschenden internationalen Finanzkapitals.

Das unbeirrte Festhalten der Bundesregierung an der Vorratsdatenspeicherung zeigt deutlich, dass sie selber nicht an die Haltbarkeit ihrer Dämpfungspolitik glaubt. Die gesellschaftlichen Widersprüche verschärfen sich, die Kämpfe gegen Ausbeutung und Unterdrü­ckung von Mensch und Natur durch Kapitalismus und Imperialismus erleben auch international einen Aufschwung.

Dagegen richtet sich letztlich die grenzüberschreitende Zu­sam­menarbeit der Geheimdienste. Sie ist zum Hauptfaktor der Faschisierung der imperialistischen Staatsapparate geworden. Dahinter steht unter dem Vorwand der Terrorbekämpfung die Angst vor der Entfaltung revolutionärer Bewegungen und Organisationen. Sie verfolgt den Zweck, die Entfaltung des Potentials einer revolutionären Weltkrise zu blockieren. Hier ordnet sich für die MLPD der aktive Widerstand gegen die Vorratsdatenspeicherung ein.

Anna Bartholomé

 

1 „Die Zeit“, 20. 6. 2015

2 „Süddeutsche Zeitung“, 21. 6. 2015

3  Umfrage von Amnesty International vom März 2015

4  Siehe Korrespondenz aus Hamburg, Seite 10 dieser Ausgabe

5  Interview mit der „Rheinischen Post“, 3. 4. 2015

6  Siehe Seite 8 unten in dieser Ausgabe

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