Offensive der Kurden im Visier
32 Jugendliche wurden ermordet, über 100 teils schwer verletzt. Ihr Ziel war der Wiederaufbaus von Kobanê. Inzwischen reagiert die türkische Erdogan-Regierung auf den wachsenden Druck im In- und Ausland. Sie nimmt den Anschlag zum Anlass, um militärisch gegen den IS, aber vor allem gegen den kurdischen Freiheitskampf vorzugehen.
Jahrelang stand die türkische Regierung in der Kritik, den faschistischen IS zu unterstützen. Jetzt gestand Erdogan unter innen- und außenpolitischem Druck zu, dass die Nato-Militärbasis Incirlik durch die USA für Luftangriffe gegen den IS genutzt wird. Die türkische Luftwaffe griff ebenfalls Stellungen des IS in Syrien an.
Doch bereits am nächsten Tag wurde Erdogans Doppelspiel offenkundig. Unter dem Vorwand des Kampfes gegen den IS wird der Krieg gegen den kurdischen Freiheitskampf neu eröffnet. Das türkische Regime brach den zweijährigen Waffenstillstand mit der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Mit der Behauptung jede Art von „Terrorismus“ zu bekämpfen, bombardierte die türkische Armee Stellungen der PKK im Nordirak und der Türkei und beschoss Stellungen der Volks- und Frauenverteidigungseinheiten (YPG/YPJ) in Rojava in Nordsyrien. „Die USA erkaufen sich die türkische Hilfe im Kampf gegen IS mit dem Verrat an den Kurden“, vermutet nicht zu Unrecht Deniz Yücel, Türkei-Korrespondent der Welt.1
Wer ist Terrorist?
Demagogisch setzt die Erdogan-Regierung den faschistischen IS mit kurdischen Freiheitskämpfern und fortschrittlichen und revolutionären Kräften gleich.
Massenhaft Andersdenkende oder Andersgläubige massakrieren, Kinder hinrichten, die den Ramadan nicht einhalten, Frauen versklaven oder Journalisten enthaupten – das ist der IS.
Erdogan erklärt nun ausgerechnet die Kräfte zu „Terroristen“, die den IS-Faschismus wirksam bekämpfen und die Bevölkerung der Region vor diesem Terror schützen. Heute sind in Rojava alle Nationalitäten und Religionen gleichberechtigt. Rojava hat mit 2 Millionen Flüchtlingen fast so viele Menschen aufgenommen, wie es selbst Einwohner hat. Rojava wird maßgeblich von der Partei der demokratischen Union (PYD) geleitet, die eng mit der kurdischen Arbeiterpartei PKK verbunden ist. Es waren ihre bewaffneten Einheiten, die Tausende Yeziden und arabische Menschen vor dem IS-Terror evakuierten und bei sich aufnahmen. Das Erdogan-Militär sah zu und die mit den USA verbündeten irakischen Kräfte nahmen die Beine in die Hand. Mit der Befreiung Kobanês und dem erfolgreichen Schutz der Yeziden in Südkurdistan zerschlugen die kurdischen Kräfte den Nimbus der IS-Unbesiegbarkeit.
Gegen wen geht Erdogan vor?
7.000 türkische Sicherheitskräfte von Polizei und Aufstandsbekämpfungseinheiten waren an Razzien in mindestens 20 Provinzen und 26 Stadtteilen von Istanbul beteiligt. In vielen Medien wurde dies so dargestellt, als ginge das türkische Regime gegen den IS vor.
Tatsächlich können bei den inzwischen über 1.000 Verhafteten nur die wenigsten dem IS zugerechnet werden. Die Mehrzahl sind fortschrittliche, demokratische und revolutionäre Menschen – darunter auch viele Türken und Gewerkschafter. In Istanbul wurde die bekannte linke Aktivistin Günay Özarslan mit 14 Polizeikugeln bei einer Hausdurchsuchung regelrecht hingerichtet.2
Selbst die Zentrale der Lehrergewerkschaft Egitim Sen wurde durchsucht. Das Telekommunikationsministerium ordnete die Sperrung von fast 100 pro-kurdischen, linken und alternativen Internetseiten an. Betroffen sind unter anderem die Tageszeitung Özgür Gündem, kurdische Nachrichtenagenturen sowie die gewerkschaftliche Seite sendika.org.
Was bezweckt Erdogan?
„Politiker mit Verbindungen zu terroristischen Gruppen sollten ihre Immunität verlieren und juristisch belangt werden.“ So verschärfte Erdogan am 28. Juni seine Drohungen. Damit zielt er auf die Illegalisierung der Demokratischen Partei der Völker (HDP). Diese Partei ist ein breites Bündnis revolutionärer, demokratischer und fortschrittlicher Menschen – Türken, Kurden und Vertreter anderer nationaler Minderheiten wie den Armeniern sowie unterschiedlichster Religionen. Die HDP hatte bei den vergangenen Parlamentswahlen 13 Prozent der Stimmen bekommen – trotz undemokratischer 10-Prozent-Hürde. Damit verlor Erdogans AKP die absolute Mehrheit und platzte sein Traum einer Präsidialdiktatur.
Durch den Krieg verbunden mit sozialchauvinistischer Propaganda will Erdogan sich als derjenige hinstellen, der Ruhe und Stabilität garantiert, um bei eventuellen Neuwahlen im November wieder eine absolute Mehrheit zu erreichen.
Die AKP ist in der Defensive …
… und das hat – neben dem kurdischen Freiheitskampf und seinen Erfolgen – viele Gründe: Dem Verlust der absoluten Mehrheit vorangegangen waren der demokratische Widerstand (Gezi-Proteste), die Proteste der Automobilarbeiter in Bursa für Lohnerhöhungen und gegen Verletzung von gewerkschaftlichen Rechten. Nicht vergessen ist auch das Bergwerksunglück in Soma aufgrund fehlender Sicherheitsvorkehrungen. 301 Kumpel verloren am 13. Mai 2014 ihr Leben. Kurdische und türkische Menschen werden gemeinsam aktiv gegen die Umweltzerstörung am schwarzen Meer durch die türkische Regierung und internationale Monopole.
Wie ernst meint es Merkel?
Im letzten Jahr hat der Kampf um Demokratie und Freiheit, wie er in den kurdischen Gebieten geführt wird, und der Sieg in Kobanê, gerade in Deutschland enorm an Anziehungskraft gewonnen. Daran hat die Solidaritätsarbeit der MLPD und der ICOR großen Anteil. Die Gleichsetzung der PKK mit dem faschistischen Terror stößt immer mehr auf Empörung. Zuletzt scheiterte die konterrevolutionäre und rassistische „Pegida“-Bewegung an diesem Versuch.
Deutschland ist heute das einzige europäische Land, in dem die PKK verboten ist. Aber der Ruf nach Aufhebung des PKK-Verbots wird lauter. Über 16.500 Menschen aus dem ganzen demokratischen Spektrum unterschrieben bisher die Petition für einen humanitären Korridor nach Kobanê.4
Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihre Regierung stehen unter Druck. Vor allem so erklärt sich die zaghafte Kritik an den türkischen Angriffen auf die PKK und die Forderung, die „Friedensgespräche fortzusetzen.“ Wie sehr diese Kritik der öffentlichen Meinung geschuldet ist, zeigt die Tatsache, dass die Bundesregierung am Verbot der PKK festhält. In Merkels Deutschland könnten die „Friedensgespräche“ gar nicht stattfinden. Denn maßgebliche Kräfte der kurdischen Seite würden in die deutschen Hochsicherheitsgefängnisse wandern. So wie vor wenigen Wochen mehrere Aktivisten der ATIK, denen unter anderem PKK-Unterstützung vorgeworfen wird.3 Nicht zuletzt sind Bundeswehrsoldaten mit Patriot-Raketen mitten im Geschehen zum Schutz des NATO-Partners Türkei stationiert.
Zehntausende Menschen verurteilten am Wochenende in der Türkei, in Südkurdistan, in Europa Erdogans kriegerische Aktionen und demonstrierten ihre Solidarität. Unlängst beschloss der Stadtrat von Rom die Partnerschaft mit Kobanê. Der Wiederaufbau von Kobanê wird von internationalen Hilfskräften, wie „Ärzte ohne Grenzen“, „Care international“ oder „medico international“ unterstützt. Der Einsatz von internationalen Aufbaubrigaden durch die revolutionäre Weltorganisation ICOR ist dabei etwas Besonderes. „Hier wird unsere Vision des länderübergreifenden Kampfes für eine sozialistische Gesellschaft fühl- und greifbar“, betonte Stefan Engel, der Vorsitzende der MLPD, in seinem Interview in der „Rote Fahne“.5
Die Fortschritte nach der demokratischen Revolution, die im Juli 2012 mit dem Volksaufstand in Kobanê begann, werden weltweit von immer mehr Menschen anerkannt. Mehr noch: als Symbol aufgegriffen, dass es gesellschaftliche Alternativen zur kapitalistischen Barbarei gibt. Genau gegen diese Ausstrahlung richten sich die gemeinsamen Bestrebungen aller imperialistischen Mächte.
Eine „Sicherheitszone“ gegen den IS?
Gemeinsam betonen die NATO-Staaten auf ihrer Sondertagung am 28. Juli das Recht der Türkei, gegen „Terrorismus“ vorzugehen. Der Begriff PKK oder gar PYD fiel dabei in den offiziellen Statements aber nicht. Einige NATO-Diplomaten kritisierten, dass „die Türkei den Kampf gegen den islamistischen ‘IS’ und die kurdische PKK vermische“.6
Der türkische Regierungschef Ahmet Davutoglu und Erdogan wollen ihre Militäroffensive gegen die PKK trotzdem fortsetzen, bis diese ihre Waffen niederlegt. Sie wollen eine „Sicherheitszone“ durchsetzen, was aber auf der NATO-Tagung nicht aufgegriffen wurde. Das sei eine bilaterale Sache zwischen den USA und der Türkei – so die Ansage. Dass es hier um syrisches Territorium geht, interessiert bei der NATO offenbar schon lange niemanden mehr.
Diese „Sicherheitszone“ soll sich im Norden Syriens entlang der türkischen Grenze auf ein bisher geplantes Gebiet von 50 km Breite und 90 km Länge erstrecken. Dort sollen US-Kampfflieger, syrische FSA-Kräfte und das türkische Militär künftig enger kooperieren. Die New York Times zitiert einen Mitarbeiter der US-Regierung: „Ziel ist es, eine IS- freie Zone zu schaffen und mehr Sicherheit und Stabilität entlang der türkischen Grenze zu Syrien zu gewährleisten.“
Tatsächlich würde eine solche Zone den territorialen Zusammenschluss der drei Kantone von Rojava verhindern. Liegt sie doch genau zwischen Kobanê/Cizire im Osten und Efrim im Westen.7
Wer Sicherheit will, …
… der muss die NATO-Sicherheitszone ablehnen und den Freiheitskampf stärken! Notwendig ist ein humanitärer Korridor für den Wiederaufbau in Rojava – der von Erdogan und allen NATO-Staaten bisher völkerrechtswidrig verweigert wird. Es sind die fortschrittlichen und revolutionären kurdischen Kräfte um die PYD in Syrien und die PKK, die bisher am erfolgreichsten die Sicherheit in der Region für Millionen Menschen gewährleisteten.
„Die MLPD als Mitglied der revolutionären Weltorganisation ICOR protestiert entschieden gegen die Aggressionen der türkischen Regierung und die Unterdrückung des demokratischen Widerstands in der Türkei“, betonte Monika Gärtner-Engel, stellvertretende Vorsitzende der MLPD in einer Erklärung vom 27. Juli. „Die MLPD unterstützt den Kampf um Demokratie, Freiheit und Sozialismus in der Türkei und Kurdistan. Sie geht fest davon aus, dass sich die kurdische Bewegung nicht provozieren lassen wird, sondern unerschütterlich auf die Einheit der türkischen und kurdischen Massen setzt.“8
Die MLPD unterstützt aktiv den Wiederaufbau von Kobanê und fordert die Aufhebung des PKK-Verbots! Sie tritt dafür ein den Kampf um Demokratie, Freiheit, echten Sozialismus zu stärken!
1 Die Welt, 25.07.15
2 Mehr zur Ermordung von Günay Özarslan auf Seite 10
3 Siehe Seite 8 dieser Ausgabe
4 www.openpetition.de Suchwort Kobanê
5 Siehe „Rote Fahne“ 29/2015
6 Deutsche Welle, 29.7.15
7 Siehe Karte
8 Die ganze Erklärung auf www.rf-news.de