Weltwirtschaft vor neuem Crash?

Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) gibt sich sicher: „Die deutsche Wirtschaft befindet sich im Sommer in einem soliden Aufschwung.“1 Blumiger drückt sich der Noch-Präsident des IFO-Instituts, Hans-Werner Sinn, aus. Für ihn ist die deutsche Wirtschaft ein „Fels in der Brandung“ und er beweist das mit seinem berühmt-berüchtigten „Geschäftsklimaindex“ für August.2 Solche „Klima“-Indizes sind im Wirtschaftsleben ungefähr genauso zuverlässig wie Kaffeesatzleserei oder der Blick in eine Kristallkugel. Die „Brandung“, die Sinn nicht ganz und gar ausblenden kann, das sind die negativen Tendenzen in der Weltwirtschaft, besonders in China, die zum Auslöser einer neuen Weltwirtschafts- und Finanzkrise werden können.

Gabriel hat entweder keine Ahnung von Wirtschaftsfragen oder er täuscht die Öffentlichkeit absichtlich, wenn er das vorläufige Ende der von 2008 bis 2014 anhaltenden Weltwirtschafts- und Finanzkrise mit einem – sogar noch „soliden“ – Aufschwung verwechselt. Schon in der Schlussphase der Krise begann weltweit eine schwankende Stagnation verbunden mit einer gewachsenen Labilität der imperialistischen Weltwirtschaft. Das liegt nicht zuletzt an großen Unterschieden und Kräfteverschiebungen zwischen Ländern, Ländergruppen und in­ternationalen Übermonopolen, die verbunden sind mit politische Spannungen und Krisen bis hin zu kriegerischen Auseinandersetzungen.

Weltweite schwankende Stagnation

Die Industrieproduktion stagniert insgesamt weltweit, das heißt: sie pendelt um eine Nulllinie. Für die gesamten OECD-Länder (die 34 führenden Industrieländer) lag sie im Mai 2015 mit 97,8 Prozentpunkten noch knapp unter dem Vorkrisenstand. Seit Jahresbeginn gehen in den meisten alten imperialistischen und neuimperialistischen Ländern die Zahlen zurück. Nur einzelne Länder wie die USA konnten den Vorkrisenstand der Industrieproduktion übertreffen. Auch in Deutschland stagniert die Industrieproduktion, im Juli ging sie sogar leicht zurück. Viele andere Länder – gerade die führenden europäischen Imperialisten – haben den Vorkrisenstand bis heute nicht wieder erreicht. Im Mai lag die Industrieproduktion der Euro-Zone immer noch um 10,9 Prozent unter dem Höchststand vor Krisenbeginn 2008. Die ungelöste Euro-Krise, die sich an Griechenland entzündet hatte, vertieft die Unsicherheit.

Trotz massiver Stützungsmaßnahmen und einer überbordenden Staatsverschuldung kommt Japan bei der Industrieproduktion gerade mal auf 83,2 Prozent im Vergleich zum Vorkrisenstand und rutscht sogar tiefer ins Abwärts. Das zeigt, dass es keineswegs nur um Börsenturbulenzen geht, sondern um das Herzstück der kapitalistischen Wirtschaft, die Industrieproduktion.

Auch die meisten der sogenannten BRICS- und MIST-Länder3, geraten ins Trudeln. Sie hatten während der Weltwirtschaftskrise deutliche Zuwachs­raten verzeichnet und damit die Weltwirtschaft insgesamt aus der Talsohle gezogen.

In Brasilien ist die Industrieproduktion in der ersten Hälfte des Jahres um 6,3 Prozent eingebrochen. Die sozialdemokratische Regierung Rousseff wird nur noch von acht Prozent der Brasilianerinnen und Brasilianer unterstützt. Bei Massendemonstrationen von Hunderttausenden in 200 Städten wird ihr Rücktritt gefordert.

Russlands Industrieproduktion ist rückläufig, insbesondere aufgrund der sinkenden Rohstoffpreise und als Folge der Wirtschaftssanktionen des Westens. Vor diesem Hintergrund verschärfen sich die kriegerischen Auseinandersetzungen in der Ukraine, wie auch die aggressive Beanspruchung arktischer Regionen durch russische Kriegsschiffe.

Unter den sinkenden Öl- und Rohstoffpreisen leiden auch andere von Rohstoffexporten stark abhängige Länder wie Venezuela, Chile, Peru, Ecuador, verschiedene afrikanische Länder oder auch Norwegen. Etliche neokolonial abhängige Länder werden auf diese Weise in Krisen gedrückt – mit weitgehenden politischen Rückwirkungen.

In der Türkei ist die Arbeitslosigkeit auf 9,3 Prozent gestiegen. Die Industrie wächst langsamer und die Lira verliert rapide an Wert gegenüber dem Dollar.

In Südkorea ist die Industrieproduktion im Juni um 2,9 Prozent zum Vorjahr gesunken, in Mexiko stagniert sie, während sie in Indien und Indonesien noch positiv ist.

Südafrika ist aufgrund der hohen Massenarbeitslosigkeit von 35 Prozent und der Abhängigkeit von Rohstoffexporten ebenfalls von einem Rückgang der Wirtschaft bedroht. Der Höchststand vor Krisenausbruch wurde im Mai um 12,7 Prozent unterschritten. Die Arbeiter beantworten die Abwälzung der Krisenlasten auf ihre Rücken mit heftigen Kämpfen.

Bereits in seinem Interview mit der „Rote Fahne“ vom 15. Juli hatte der MLPD-Vorsitzende Stefan Engel darauf hingewiesen: „Die schwankende Stagnation weist darauf hin, dass der Plan weitgehend fehlgeschlagen ist, durch die Flutung der Geldmärkte ,einen sich selbst tragenden Aufschwung‘ auszulösen, wie es Merkel ausdrückte. Wir erleben heute das Scheitern der bürgerlichen Ökonomie, was objektiv den Kapitalismus überhaupt in Frage stellt.“4

Chinas Schlüsselstellung

Für die Wirtschaftsentwicklung weltweit und besonders auch in Deutschland nimmt die Entwicklung in China eine Schlüsselstellung ein.

In China ist das Wachstum der Industrieproduktion offiziell auf 7 Prozent gefallen, die niedrigste Rate seit den 1990er Jahren. Die immense Verschuldung besonders der Kommunen, eine Immobilienblase mit Leerständen ganzer neu gebauter Städte und wachsende Überkapazitäten zeigen, wie sehr das gesamte Wirtschaftswachstum auf spekulativer Grundlage beruht.

In den vergangenen zwölf Monaten hatte sich die Börsen­kapitalisierung aller in China zugelassenen Aktien auf 10 Billionen US-Dollar verdreifacht. Davon wurden etwa 3 Billionen US-Dollar allein bei einem Einbruch der Börsenkurse um 30 Prozent im Juli vernichtet. Mit Handelsbeschränkungen, Stützungsmaßnahmen und einer drastischen Abwertung des Yuan steuerte die Regierung dagegen. Sie konnte den Börsenabsturz damit nur zeitweilig auffangen. Jetzt gab es einen erneuten Rückschlag, weil diese krisendämpfenden Maßnahmen immer mehr verpuffen.

Chinesische Exporte sind im Juli 2015 gegenüber dem Vorjahresmonat um 8,3 Prozent zurückgegangen – ein Ziel der Abwertung ist zweifellos, die Ausfuhren wieder anzukurbeln. Importe werden damit aber teurer.5

Die deutsche Wirtschaft konnte sich gerade aufgrund ihrer Exportstärke schneller erholen als die meisten anderen Länder. Aber genau das wird sich als Bumerang erweisen.

China war 2014 mit 75 Mil­liarden Euro der wichtigste Exportmarkt für deutsche Unternehmen – nach Frankreich, den USA und Großbritannien.

Die deutschen Automonopole haben jahrelang nicht nur den Export hier produzierter Autos nach China massiv forciert, sondern auch im Land große Produktionsstätten aufgebaut. VW verkauft mit 3,7 Millionen Autos in China 37 Prozent seiner Pkw und fährt dort den größten Teil seiner Gewinne ein. Gleichzeitig wollen sie mit ihren chinesischen Partnerfirmen FAW und SAIC die Produktion auf 5 Millionen hochschrauben – und machen sich damit selber Konkurrenz.6 Im Juni brach der Absatz von VW in China um 22 Prozent ein. Audi und BMW melden deutliche Rückgänge beim Absatz in China und drosseln bereits die Produktion. Die Abhängigkeit der deutschen Autohersteller, aber auch der Chemie-Industrie und der Maschinenbauer von China ist in den vergangenen Jahren stark gestiegen.

Durch die Immobilienblase und die Börseneinbrüche sind die Möglichkeiten für wohlhabendere Chinesen, Autos zu kaufen, deutlich getrübt. Die Autohersteller überbieten sich mit Rabatten, es gibt bei den ausländischen Autoproduzenten Entwicklungen zur Überproduktion. In China hat sich inzwischen eine eigene Autoindustrie entwickelt, die billiger anbietet und zunehmend Marktanteile erobert, was den Preisdruck erhöht.

Hinzu kommt als weiterer Trend der Ausbau chinesischer Technologiekonzerne zu internationalen Übermonopolen. Insbesondere im Flugzeug-, Eisenbahn- und Fahrzeugbau sowie der Stahlproduktion treten diese Konzerne zunehmend in direkte Konkurrenz zu deutschen Übermonopolen wie Siemens oder Airbus.

Diese „Brandung“ wird auch ein angeblicher „Fels“ nicht standhalten. Das schwant selbst Wirtschaftsprofessor Max Otte: „Aber Deutschland hängt mehr als jedes andere große Land an der Weltwirtschaft, mehr als Japan oder China. Wenn diese Vielzahl von Problemen zum Absturz der Weltwirtschaft führt, dann trifft das Deutschland sofort. Wir haben das gesehen, als der deutsche Export 2009 brutal eingebrochen ist nach der Finanzkrise.“7

Die gegenwärtige Entwicklung kann zum Auslöser einer neuen Weltwirtschafts- und Finanzkrise werden. Und das umfassende Krisenmanagement, das noch 2008 angekurbelt wurde, kann angesichts der exorbitant gestiegenen Staatsverschuldung auch nicht einfach wiederholt werden.

Die gewachsene Labilität der Weltwirtschaft verstärkt schon jetzt die allgemeine Krisenhaftigkeit des Imperialismus. Die Auslösung einer neuen Weltwirtschafts- und Finanzkrise würde das noch erheblich zuspitzen. Drastisch wird das an der gegenwärtigen Krise der bürgerlichen Flüchtlingspolitik mit dem wachsenden Strom an Flüchtlingen als Begleiterscheinung der krisenhaften Daseinsweise des Imperialismus deutlich. Wer all diese Krisen abschaffen will, muss den Kapitalismus abschaffen und für vereinigte sozialistische Staaten der Welt eintreten.

Kämpfe der Automobilarbeiter beleben sich

Die Folgen dieser Entwicklung werden von den internationalen Monopolen über die Steigerung der Ausbeutung und von den meisten Regierungen über die verstärkte Umverteilung des Nationaleinkommens zu Gunsten der Monopole auf die breiten Massen abgewälzt. Zu spüren bekommen das insbesondere auch die Familien der Arbeiter und ihre Frauen. So haben chinesische Rentenkassen ebenfalls an der Börse spekuliert, was ihnen bis vor einiger Zeit noch verboten war, jetzt aber legalisiert wurde. Die Börseneinbrüche werden deshalb auch die Rentnerinnen und Rentner bezahlt müssen. In einigen chinesischen Unternehmen beginnen Entlassungen. Andere – so wie Foxconn oder Textilunternehmen – wandern in Länder ab, die zu noch geringeren Löhnen schuften lassen.

Aber auch in China ist das Selbstbewusstsein der breiten Massen und ganz besonders des Industrieproletariats gewachsen. Nach der verheerenden Chemiekatastrophe in der Hafenstadt Tianjin gingen die Leute voller Wut gegen die Regierung auf die Straße, weil der ganze Wirtschaftsboom ohne jede Rücksicht auf Sicherheit und Umweltstandards vorangetrieben wurde.

Die Illusionen vom „Wohlstand für alle“ in den aufstrebenden neuimperialistischen Ländern scheitern mehr und mehr. Es sind in vielen dieser Länder neben den Bergleuten besonders Automobilarbeiterinnen und Automobilarbeiter, die sich kämpfend zu Wort melden. Weltweit arbeiten über fünf Millionen Beschäftigte allein in den 33 größten Automobilmonopolen, wozu auch die größten Zulieferer gehören (siehe Tabelle).

Die allseitige Krisenhaftigkeit des Imperialismus ist die materielle Grundlage dafür, dass sich in verschiedenen Ländern die Kämpfe beleben. In China sind Streiks für Lohnauszahlungen und gegen Entlassungen auf der Tagesordnung, in Südafrika blockierten wochenlange Streiks die Produktion. In der Türkei ging in diesem Frühjahr eine Streikbewegung in Bursa von einer Renault-Belegschaft aus. Erst vor wenigen Tagen beendete die Belegschaft des GM-Werks Sao Jose in Brasilien einen zwölftägigen Streik gegen 198 Entlassungen mit einem Teilerfolg. Im Libanon und in Malaysia gibt es breite Massenproteste gegen eine von der Regierung verantwortete Müllkrise bzw. ein korruptes, unterdrückerisches Regime.

Diese Erfahrungen miteinander auszuwerten und sich immer besser in gemeinsamen Kämpfen zu koordinieren und zu kooperieren und dabei auch über gesellschaftliche Alternativen zu diesem krisengeschüttelten kapitalistischen System zu beraten – das sind Themen der 1. Internationalen Automobilarbeiterkonferenz, die vom 15. bis 18. Oktober 2015 in Sindelfingen organisiert wird (siehe Seiten 8 bis 11).

Anna Bartholomé

 

1 Ifo-Pressemitteilung, 25.8.2015

2 Pressemitteilung des BMWI, 12.8.2015

3 BRICS-Staaten: Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika; MIST-Staaten: Mexiko, Indonesien, Südkorea, Türkei

4 „Rote Fahne“, 15.7.2015

5 „Süddeutsche Zeitung“, 13.8.2015

6 „Wirtschaftswoche“, 13.5.2015

7 „Augsburger Allgemeine“, 24.8.2015

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