Große Pionierleistungen für die Befreiung der Frau
Nadeshda Krupskaja (Foto: Public domain)
Der Tag gegen Gewalt an Frauen ist eine gute Gelegenheit, die Errungenschaften der Befreiung der Frau in der jungen, damals noch sozialistischen Sowjetunion genauer anzuschauen
Wenige Wochen nach der Oktoberrevolution 1917 erließen die Sowjets ein Familiengesetz und Sexualstrafrecht mit so weitreichenden Errungenschaften, wie sie bis heute in vielen Ländern der Erde nicht durchgesetzt sind. Eheschließung wurde Privatangelegenheit, Ehescheidung möglich ohne Einwilligung des Mannes. Gleichstellung nichtehelicher und ehelicher Kinder, gemeinsames Sorgerecht der Eltern, keine Gewalt gegen Kinder, Frauen im Eigentumsrecht den Männern gleichgestellt.
Prostitution war verboten, Prostituierte bekamen eine Ausbildungsmöglichkeit und berufliche Perspektiven vermittelt, Homosexualität war straffrei. Nachtarbeit und Überstunden waren für Frauen ebenso verboten wie Arbeit unter Tage. Der Mutterschaftsurlaub wurde eingeführt, die Essensration erhöht für stillende Mütter und ihre Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich auf sechs Stunden täglich begrenzt. Alle drei Stunden erhielten sie Still- und Betreuungspausen. Für Frauen galten bürgerlich-demokratische Rechte, die einzigartig waren auf der Welt. Gleichwohl war die Umsetzung dieser Gesetze alles andere als glatt.
Gesetze sind das eine, Traditionen und Gepflogenheiten das andere
Die Frauen-Massenmobilisierung war Aufgabe des im September 1919 beschlossenen „Zenotdel“, der Frauenabteilung beim Zentralkomitee der KPdSU1. „In einer Unzahl von Diskussionsversammlungen – mit tausendköpfigen Arbeitermeetings in den Großstädten beginnend, bis hin zu winzig kleinen Aussprachen in den Bauernlesehütten der entlegendsten Dörfer – wurden einzelne Punkte einer Vorlage immer wieder durchgesprochen“2 Ein anderer Zeitzeuge aus der Weimarer Republik titelte: „160 Millionen diskutieren das neue Ehegesetz“.3
In St. Petersburg kann man noch heute Zeugnisse vieler Errungenschaften der jungen Sowjetunion besichtigen: Speisehäuser, die die Lasten der Haushaltsführung ersetzten. 1919/20 versorgten öffentliche Speisehallen nahezu 90 Prozent der Petersburger und 60 Prozent der Moskauer Bevölkerung.4 Kinderkrippen und Waschanstalten erleichterten die Familienarbeit.
Kurz nach der Revolution mussten viele der ehrgeizigen Pläne der Sowjetregierung zeitweilig zurückgestellt werden. Wegen des zerrütteten Zustands des Landes nach dem I. Weltkrieg und der noch nicht besiegten Armut; vor allem aber, weil sich das Bewusstsein und die Loslösung von überkommenen Traditionen nur in einem freiwilligen, gründlichen und langwierigen Prozess vollziehen. Doch die Richtung stimmte: Verlegung vieler bisheriger Aufgaben der Frauen in öffentliche Einrichtungen zur Entlastung der Frauen von der Familienarbeit. Allerdings gab es auch unter den Revolutionärinnen und Revolutionären sehr konträre Auffassungen – einen Kampf zwischen proletarischer und kleinbürgerlicher Denkweise! Neben den von revolutionärer Aufbruchstimmung geprägten vorwärtstreibenden Vorschlägen für die Befreiung der Frau traten auch illusionäre oder sektiererische Vorstellungen auf. Alexandra Kollontai, Volkskommissarin für soziale Fürsorge von Oktober 1917 bis März 1918, stellte in einer ihrer Vorlesungen die These auf, dass sich die Befreiung der Frau im Sozialismus von selbst lösen ließe. Das verkannte den notwendigen weltanschaulichen Kampf unter den Massen, aber auch in der revolutionären Bewegung. Vorschläge, wie zum Beispiel Säuglinge direkt von ihren Eltern weg in Heimen unterzubringen, um sie „gesellschaftlich“ zu erziehen, kritisierte Nadeshda Krupskaja, seit 1917 Kommissarin für Volksaufklärung und Ehefrau Lenins. Sie wandte sich dagegen, die vollständige Verantwortung der Gesellschaft für die Kindererziehung so auszulegen, dass die Eltern ausgeschaltet sind. Ihre Idee von sozialistischen Wohnkombinaten, in denen Hausarbeit gemeinschaftlich wahrgenommen wird, wurde aus pragmatischen Gründen jedoch nicht weiter verfolgt. Man stellte das in Widerspruch zur notwendigen Versorgung von Obdachlosen und verbaute sich damit wichtige Erfahrungen in der Praxis des sozialistischen Aufbaus.
Weil die weltanschauliche Auseinandersetzung vernachlässigt wurde, konnte sich Mitte der 1930er-Jahre eine falsche Richtung durchsetzen: Schwangerschaftsabbrüche wurden wieder verboten, die Frau auf ihre Rolle als Mutter festgelegt, allerdings neben der vollen Berufstätigkeit. Dazu heißt es in dem Buch „Neue Perspektiven für die Befreiung der Frau“ von Stefan Engel und Monika Gärtner-Engel: „Die sowjetische Familiengesetzgebung ab 1936 muss als Niederlage der revolutionären Arbeiterbewegung angesehen werden. In der weltanschaulichen Auseinandersetzung konnten bürgerliche Familien- und Moralvorstellungen einen wichtigen Teilsieg über den marxistisch-leninistischen Weg zur Befreiung der Frau im Sozialismus erringen.“5
Damit geriet die KPdSU in dieser Frage grundsätzlich in Widerspruch zum Marxismus-Leninismus. Künftige sozialistische Gesellschaften werden von den positiven wie negativen Erfahrungen der Sowjetunion lernen. Vor allem aber sind die unauslöschlichen Errungenschaften und die gesellschaftliche Streitkultur dafür ein Trumpf in der Diskussion der kämpferischen Frauenbewegung über gesellschaftliche Alternativen. (bz)
1 Kommunistische Partei der Sowjetunion 2 Fannina W. Halle, „Frauenemanzipation, Berichte aus den Anfängen des revolutionären Rußland“ 1932; 3 vgl. Kai Thomas Dieckmann, „Die Frau in der Sowjetunion“, Campus Verlag, Frankfurt am Main, S. 74; 4 ebenda, S. 87; 5 Stefan Engel und Monika Gärtner-Engel, „Neue Perspektiven für die Befreiung der Frau“, S. 245