Brutale Wasserwerfer-Einsätze: Weltweit wächst Kritik
Dieter Reicherter kämpft seit dem „Schwarzen Donnerstag“ unermüdlich für die Aufklärung und Verfolgung der Verantwortlichen
Die Rote Fahne sprach mit Dieter Reicherter, Staatsanwalt und Richter a. D., aus Stuttgart. Er setzt sich ein für die Geschädigten des brutalen Wasserwerfer-Einsatzes beim „Stuttgart 21“-Protest am 30. 9. 2010 und war im Juni 2016 eingeladen zum Wasserwerfer-Symposium in Seoul
Rote Fahne: Herr Reicherter, Sie waren im Juni nach Seoul eingeladen. Wie kam es dazu?
Dieter Reicherter: Was für uns der 30. September ist, ist für die Südkoreaner der 14. November 2015. Da demonstrierten 130 000 Menschen: Bauern für die Einlösung des Wahlversprechens der Präsidentin, den Reispreis zu erhöhen; Arbeitnehmer für ihre Rechte und gegen das pazifische Freihandelsabkommen; Angehörige für die Aufklärung staatlichen Versagens bei einem Fährunglück mit 300 Toten. Die Polizei ging mit brutaler Gewalt vor. Ein Wasserwerfer nahm mit hohem Druck gezielt Nam-gi Baek, einen 68-jährigen Führer der Bauern, ins Visier und schoss ihn ins Koma. Noch als er bewusstlos auf dem Boden lag, wurde er weiter beschossen. Vor Kurzem erhielt ich die traurige Nachricht, dass er gestorben ist. Südkoreanische Menschenrechtler organisierten die internationale Konferenz, weil sie Öffentlichkeit und Aufklärung verlangen.
Was wurde auf der Konferenz besprochen, und was konnten Sie dazu beitragen?
Im Mittelpunkt standen die Gefahren, die von Wasserwerfern ausgehen, und ob sie wegen Verstoßes gegen die Menschenrechte nicht verboten werden müssen.
Professoren, Politiker und Studenten nahmen Stellung. Ich erzählte unter großer Anteilnahme vom Schwarzen Donnerstag in Stuttgart und vom fast blind geschossenen Dietrich Wagner. Unser Kampf mit der Justiz für Gerechtigkeit und Strafverfolgung der Verantwortlichen und letztlich der späte Erfolg vor dem Verwaltungsgericht hat den Südkoreanern Mut gemacht: Der Polizeieinsatz wurde ja rundweg als unrechtmäßig und als Verstoß gegen das Versammlungsrecht verurteilt. Ich war auch zu einer Pressekonferenz mit Sam Hawke, Sprecher der britischen Menschenrechtsorganisation Liberty, eingeladen.
Was hat es mit der „Pressekonferenz“ auf sich?
Zu einer weiteren, uns als Pressekonferenz angekündigten Veranstaltung, gelangten wir nach einem Spaziergang, bei dem der Weg zunächst von Polizisten blockiert wurde. Wir erreichten einen kleinen Platz, auf dem sich an die hundert Menschen zum Protest wegen des Fährunglücks versammelt hatten. Der Platz war komplett umstellt von Uniformierten in voller Montur, bewaffnet mit Schutzschilden und Schlagstöcken. Ich schätzte sie auf mindestens tausend. In Südkorea werden Demonstrationen auf der Straße meistens verboten. Deshalb die Erfindung einer „Pressekonferenz“.
Es gab noch Treffen mit Anwälten, Richterinnen und Richtern des obersten Gerichts sowie mit Parlamentariern. Zusammen mit Sam Hawke war ich auf das Podium einer öffentlichen Talkshow eingeladen. Die Teilnehmer forderten in Bezug auf Nam-gi Baek: „Die kriminelle Tat muss aufgeklärt werden!“ Für unsere Unterstützung waren sie sehr dankbar.
Gab es Reaktionen aus anderen Ländern?
Sam Hawke berichtete, dass Dietrich Wagner mit seinem Anwalt Frank-Ulrich Mann nach England zu Diskussionen über Wasserwerfer eingeladen war. Inzwischen hat England mit Zustimmung der Polizeiführung beschlossen, keine Wasserwerfer einzusetzen, obwohl die Regierung erst ausgemusterte Wasserwerfer aus Deutschland gekauft hat.
Welche Erkenntnisse bringen Sie mit nach Deutschland?
Ein UN-Beauftragter hatte zuvor die Menschenrechtssituation in Südkorea untersucht. Sein Urteil: Selbst wenn bei einer Versammlung einige Teilnehmer gewalttätig sind, macht das nicht die ganze Versammlung gewalttätig und es gibt keinen Grund für eine Versammlungsauflösung. Nach internationalen Menschenrechten sind auch Verkehrsbehinderungen kein Verbotsgrund.
Wir sollten also viel entschlossener demokratische Rechte einfordern, ohne uns Illusionen über den Charakter des Staates zu machen …
Das ist richtig. Ich habe mich aufgrund des Berichts über Südkorea an die Vereinten Nationen gewandt mit der Bitte, auch in Deutschland die Lage der Menschenrechte bei friedlichen Versammlungen zu prüfen. Insbesondere habe ich auf die fragwürdige Praxis der Einkesselung von Demonstranten aufmerksam gemacht sowie auf die fehlende Kennzeichnung von Polizisten. Als Angriff auf die Versammlungsfreiheit habe ich auch die häufige Fertigung von Bild- und Tonaufzeichnungen bei Versammlungen kritisiert. Fazit: Man sieht, wie wichtig es ist, sich mit anderen Bürgerrechtsbewegungen auszutauschen und sich auf völkerrechtlich verbindliche Menschenrechte zu berufen.
Vielen Dank und weiterhin viel Kraft für Ihr Engagement!