Ein „Sommermärchen“ als Ablenkungsmanöver?
Foto: Arne List / CC BY-SA 2.0
Wie und warum die Fußball-Weltmeisterschaft 2006 nach Deutschland kam
In der Öffentlichkeit ist weithin das Bild verbreitet, Franz Beckenbauer habe die Fußball-WM 2006 nach Deutschland geholt – obwohl Sepp Blatter sie nach Afrika vergeben wollte. Diese Sicht überschätzt die Rolle Beckenbauers. Wirkliches Gewicht für die Gewinnung ausreichender Stimmen hatten schon eher die Millionen von Leo Kirch, der bereits im Besitz der Fernsehrechte für die WM war. Vor allem die deutschen Monopole setzten alle Hebel in Bewegung für eine Fußball-WM 2006 in Deutschland.
Im Juni 2000, kurz vor der FIFA-Entscheidung, steigt Daimler-Chrysler mit einer Kooperation beim südkoreanischen Autokonzern Hyundai mit rund 800 Millionen DM ein; der Sohn der Hyundai-Besitzerfamilie saß damals im FIFA-Wahlgremium. „Die Konzerne Volkswagen und Bayer versprachen hohe Investitionen in Südkorea und Thailand. Und eine Woche vor der WM-Vergabe hob Berlin ohne Angabe von Gründen das Waffenembargo gegen Saudi-Arabien auf, um dem Königreich den Kauf deutscher Panzerfäuste zu ermöglichen.“1 Kanzler Gerhard Schröder (SPD) warb offensiv bei ausländischen Staatsmännern um ihre Stimme; deutsche Politiker und Diplomaten sprachen ausländische Entscheidungsträger an. Besonders erfolgreich war das Treffen Gerhard Schröders 1999 mit Hamad bin Jassem Al Thani, dem Außenminister von Katar – zugleich FIFA-Funktionär. Der sorgte im Folgenden dafür, dass seine asiatischen FIFA-Kollegen aus Südkorea, Thailand und Saudi-Arabien für Deutschland stimmten. Warum war die Fußball-WM in Deutschland den Monopolen so wichtig?
Ende der 1990er-Jahre entstand auf der Basis der Neuorganisation der internationalen Produktion eine Übergangssituation in der wirtschaftlichen und politischen Entwicklung: Die Vorboten einer Wirtschaftskrise nahmen zu. 2001 brach die Krise aus. Um ihre Position im internationalen Konkurrenzkampf zu stärken, forderten die Monopole von der Schröder/Fischer-Regierung einen rigorosen Abbau der sozialen Rechte und eine Zerschlagung des bisherigen Sozialversicherungssystems. Dies mündete dann auch in der sogenannten „Agenda 2010“. Die Bindung der Massen an die bürgerlichen Parteien, den bürgerlichen Parlamentarismus und seine Institutionen nahm erheblich ab. Dieser Loslösungsprozess erfasste zunächst die SPD und die Grünen, dann auch die CDU. Die Bindungsfähigkeit des Reformismus von SPD und der Gewerkschaftsführung geriet immer mehr in eine offene Krise. Die kämpferische Stimmung in den Betrieben und die Möglichkeiten der MLPD für eine positive Gewerkschaftsarbeit stiegen. Der selbständige Opel-Streik 2004 war ein bundesweites Signal für die Arbeiteroffensive. Eine möglichst begeisternde Fußball-WM im eigenen Land schien den Herrschenden ein hervorragendes Projekt, um von ihrem volksfeindlichen Kurs abzulenken und die „nationale Stimmung“ zu heben. Ein kleiner Teil der Bevölkerung ließ sich davon tatsächlich berauschen, flaggte vor allem die deutsche Fahne, um sich abzugrenzen. In Deutschland lange aus der Mode gekommene Gewohnheiten, wie das Aufstehen bei der Nationalhymne, wurden wiederbelebt. Das eigene – dazu noch imperialistische – Land über andere Länder und die internationale Solidarität zu stellen: Das nützt in erster Linie den Herrschenden.
Insgesamt aber war die Stimmung im Gastgeberland Deutschland von Völkerfreundschaft geprägt – und der Loslösungsprozess ging auch weiter. (cw)
1 Jens Berger, „Der Kick des Geldes“, S. 210/211