23.05.05 - "Die offene politische Krise der Berliner Regierung birgt große Chancen und Herausforderungen für die MLPD!"

Rote-Fahne-Interview mit Stefan Engel, Parteivorsitzender der MLPD

Rote Fahne: Der gestrige Wahlabend hatte einiges an Dramatik, Hektik und vielleicht sogar Panik zu bieten. Die SPD/Grünen-Regierung im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen wurde abgewählt. Die CDU konnte Stimmen gewinnen und wird wohl mit der FDP die neue Landesregierung bilden. Kanzler Schröder kündigte schon wenige Minuten nach Schließung der Wahllokale vorgezogene Neuwahlen im Bund für diesen Herbst an. Was ist hier eigentlich los?

Stefan Engel: Wir erleben eine offene politische Krise der Berliner Regierung. Die Herrschenden können nicht mehr in der alten Weise regieren, und die Massen wollen sich nicht mehr in der alten Weise regieren lassen. Wenn Schröder die "politische Grundlage für die Fortsetzung seiner Arbeit in Frage gestellt" sieht, so bezieht sich das durchaus nicht nur auf das schlechte Wahlergebnis in NRW. Dort fasste sich nur zusammen, was sich in den letzten Monaten bereits vorbereitet hatte: der aktive Widerstand gegen Hartz IV konnte durch nichts gebrochen werden. Der selbständige Opel-Streik im Oktober 2004 für den Erhalt der Arbeitsplätze war Ausdruck davon, dass die reformistische Klassenzusammenarbeitspolitik insbesondere im Kern des Industrieproletariats nicht mehr so gut funktioniert. Der seit dem letzten Herbst eingeleitete Übergang zur Arbeiteroffensive auf breiter Front und die Einbeziehung der Massen in den Kampf gegen Monopole und Regierung sind der eigentliche Grund für das Debakel der Schröder/Fischer-Regierung und ihre offene politische Krise. Was soll eine sozialdemokratische Regierung für die Monopole auch noch für ein Zweck haben, wenn sie das Denken, Fühlen und Handeln insbesondere der Arbeiter nicht mehr nachhaltig beeinflussen, binden und kontrollieren können?

Rote Fahne: Wie verträgt sich diese Einschätzung mit den Zugewinnen für die CDU, die doch gegenüber der letzten Landtagswahl ca. 1 Million Wähler dazugewinnen konnte?

Stefan Engel: Natürlich zeigen die Zugewinne für die CDU, dass die Kritik an der Schröder/Fischer-Regierung noch nicht mit einem revolutionären Bewusstsein geführt wird! Es wäre aber völlig verfehlt, aus dieser Wahl eine massenhafte Zustimmung zur Programmatik der CDU oder gar zu ihren Kandidaten zu schließen. Wahlanalysen zeigen, dass die meisten Wähler heute kaum mehr positiv für eine bestimmte Politik stimmen, sondern mit ihrer Wahl die Ablehnung einer ganz bestimmten Politik, zumeist der Regierungsparteien zum Ausdruck bringen. So hat die SPD eindeutig am meisten unter den Arbeitern verloren, sowohl den noch beschäftigten Kolleginnen und Kollegen als auch den Arbeitslosen. Von ihnen sind viele der Wahl ferngeblieben oder haben ungültig gewählt. Vor allem unter Arbeitslosen wurde zum Teil auch die linksreformistische "WASG" gewählt, die aber mit knapp über 2 Prozent  hinter ihren eigenen Erwartungen vom Überspringen der 5-Prozenthürde zurückblieb. Was die Gewinne für die CDU angeht, muss man vor allem drei Faktoren in Rechnung stellen. Erstens war die CDU bei der letzten Landtagswahl im Jahr 2000 überproportional eingebrochen aufgrund der damaligen Kohl-Krise rund um den CDU-Spendensumpf. Hier konnte sie zum Teil einiges an ihrem eigenen Wählerreservoir wieder zurückgewinnen. Zweitens profitierte sie von der Schwäche der FDP. Das ist allerdings eine etwas problematische "Stärkung", da sie voll auf Kosten ihres eigenen bürgerlichen Koalitionspartners geht. Zum Dritten hat Rüttgers ausdrücklich die unsoziale Komponente von Hartz IV kritisiert und so den Eindruck erweckt, er stünde im Widerspruch zur Bundes-CDU, die diese Gesetze mitgetragen hat. Bei den Wahlen spielen wahltaktische Momente eine immer größere Rolle, während die Zahl der Überzeugungswähler tendenziell sinkt.

Rote Fahne: Welche Rolle hat die MLPD in den letzten Wochen gespielt, zumal sie gar nicht zu den Landtagswahlen kandidiert hat?

Stefan Engel: Zunächst muss man sagen, dass die MLPD in diesem Wahlkampf, vor allem in seiner Schlussphase immer präsent war. Wir waren einer der Hauptveranstalter des Pfingstjugendtreffens in Gelsenkirchen. Dieses internationale Zukunftsfestival für Jung und Alt hätte ja nach dem Willen von SPD, Grünen und CDU gar nicht stattfinden sollen. Ihr offener Antikommunismus erlebte jedoch eine Pleite wie selten - und dies sogar höchstrichterlich bestätigt! Und die mit Abstand größte Veranstaltung in der Zeit des Wahlkampfs war nun mal dieses Pfingstjugendtreffen zusammen mit der ebenfalls an Pfingsten stattgefundenen Anti-Hartz-IV-Demo mit 5.000 bis 6.000 Teilnehmern und getragen von einem breiten Spektrum. Dann die Kapitalismus-Debatte als hauptsächliches Wahlkampfthema, - das war ja keine Idee von Müntefering. Er ist doch lediglich auf den fahrenden Zug einer breiten gesellschaftlichen Auseinandersetzung aufgesprungen, wo unter den Massen längst sehr tiefgehend über gesellschaftliche Alternativen diskutiert wird und die Perspektive des echten Sozialismus an Anziehungskraft gewinnt. Millionen Menschen halten Kritik am Kapitalismus für höchst angebracht und glauben gerade deshalb den kapitalistischen Regierungspolitikern kein Wort, wenn sie sich scheinbar kapitalismuskritisch äußern. Müntefering weiß nicht einmal, wovor er eigentlich mehr Angst haben soll: Vermeidet die SPD die Kapitalismus-Kritik, verpasst sie den Anschluss an das entscheidende politische Thema, führt sie sie, wird sie - wie der Zauberlehrling - die Geister nicht mehr los, die sie rief. Nicht zufällig giftete SPD-Spitzenkandidat Steinbrück bei der Abschlusskundgebung am Freitag in Dortmund mit Schröder und Müntefering gegen die MLPD. Wie schon am 1. Mai in Gelsenkirchen witterte er hinter jedem Kritiker an der Regierungspolitik einen MLPD-Anhänger - und sah sich prompt plötzlich dauernd von solchen umringt. 

Rote Fahne: Wie wird sich die MLPD zu vorgezogenen Bundestagswahlen verhalten ?

Stefan Engel: Auf jeden Fall werden wir offensiv in dieser politischen Atmosphäre als sozialistische Alternative Flagge zeigen! Das heißt auch, dass wir uns in der einen oder anderen Weise an der Wahl beteiligen. Das wird meines Erachtens von unseren Mitgliedern, von unseren politischen Freunden und Mitstreitern in der kämpferischen Opposition und darüber hinaus von einer wachsenden Zahl von Menschen erwartet. Das entspricht einfach auch der neuen gesellschaftlichen Rolle, in die die MLPD zur Zeit hineinwächst. Wie sich diese Wahlbeteiligung konkret gestaltet, darüber stellen wir in unserer Partei gerade ein Meinungsbild her. Auf der Basis dieser demokratischen Auseinandersetzung wird dann das Zentralkomitee beraten und entscheiden. Sehr viel Zeit haben wir ja nicht. Eines aber steht jetzt schon außer Frage: Es wird im bevorstehenden Sommer und Herbst die taktische Hauptaufgabe der MLPD werden, diese offene politische Krise so zu nutzen, dass der marxistisch-leninistische Parteiaufbau und die Entwicklung der kämpferischen Opposition einen großen Schritt voran kommt. Dabei sollte nach meinem Dafürhalten als Leitlinie gelten, dass ein jeder in Deutschland, der nach einer echten Alternative sucht und der will, dass sich wirklich etwas ändert, dies auch mit seiner Wahlentscheidung unterstreichen kann. Vor uns steht also eine Herausforderung, die vor allem viel systematische Kleinarbeit und Organisationsarbeit bedeuten wird. In jedem Fall wird sie einen weiteren großen Schritt vorwärts in der nachhaltigen Durchbrechung der relativen Isolierung der MLPD, im Ausbau ihrer gesellschaftlichen Relevanz bedeuten.

Rote Fahne: Vielen Dank für dieses Gespräch und viel Erfolg der MLPD bei dieser wichtigen Entscheidungsfindung!

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