18.09.05: Die Bundestagswahl hat die offene politische Krise vertieft

Interview mit dem Vorsitzenden der MLPD, Stefan Engel, vom 18.09.2005

Rote Fahne: Wie ist deine vorläufige Gesamtbeurteilung des Ergebnis der Bundestagswahl?

Stefan Engel: Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik hat die Bundestagswahl nicht zu einer Entspannung, sondern im Gegenteil zu einer Vertiefung der offenen politischen Krise geführt. Nie zuvor gab es eine solche Situation, in der es völlig offen bleibt, ob es überhaupt zu einer Regierungsbildung kommt. Jede derzeit denkbare Regierungsbildung wäre ein erheblicher Kompromiss gegenüber dem vom BDI geforderten Monopolprogramm. BDI-Chef Jürgen Thumann sagte deshalb: "Aus Sicht der Industrie und Wirtschaft sind wir bitter enttäuscht." Nicolas Schweickhart, Chef des Chemie- und Pharmakonzerns Altana erklärte: "Das Wahlergebnis ist für die deutsche Wirtschaft ein Desaster." Man weiß noch nicht einmal, ob überhaupt eine neue Regierung zustande kommt. So wird bereits wieder von einer Neuwahl geredet.

Rote Fahne: Äußerst überraschend für die Meinungsforscher war das schlechte Abschneiden der CDU im Schluss-Spurt der Bundestagswahl.

Stefan Engel: Die Massen haben dem Krisenprogramm der Monopole, das von der CDU bei den Wahlen propagiert wurde, eine deftige Abfuhr erteilt. Die CDU-Chefin hat sich verrechnet und muss das mit einer kläglichen Wahlniederlage bezahlen.
Es ist offensichtlich, dass sich bei der Bundestagswahl ein Linkstrend verfestigt hat, der sich in den letzten beiden Jahren herausbildete. Das geht natürlich zu Lasten der CDU, die im Grunde genommen immer nur davon profitierte, dass die Massen die Schröder/Fischer-Regierung nicht mehr wollten. Aber in dem Moment, wo sie ihr volksfeindliches Programm präsentieren musste, haben die Massen die zu erwartende Merkel-Regierung abgelehnt.
Die SPD hat 4,5 Prozent gegenüber der Bundestagswahl 2002 verloren, was auch zum Ausdruck bringt, dass die Leute die Schröder/Fischer-Regierung nicht mehr wollen. Der unübersehbare Linkstrend links von der SPD ist ein deutliches Signal nicht nur gegen die Schröder/Fischer-Regierung, sondern auch gegen Schwarz-gelb. Dieses Wählervotum - nämlich weder rot/grün, noch schwarz/gelb in der Regierung haben zu wollen, sondern eine Korrektur nach links zu fordern - zu missachten, könnte den Herrschenden schlecht bekommen. Im Grunde genommen bestätigt sich die Einschätzung der MLPD von einem sehr tiefgreifenden Loslösungsprozess der breiten Massen von den bürgerlichen Parteien, dem bürgerlichen Parlamentarismus und seinen Institutionen. Es gelingt den Herrschenden trotz intensivstem Wahlkampf nicht, sie wieder für ihre Politik zu begeistern. Die Massen haben unmissverständlich geäußert, dass sie keine der etablierten, bürgerlichen Regierungsvarianten haben wollen. Gerade darin äußert sich die Vertiefung der offenen politischen Krise!

Rote Fahne: Die MLPD ist bundesweit bei diesen Wahlen angetreten. War die große Kraftanstrengung nicht mit dem Risiko verbunden, die Kräfte überdimensional zu beanspruchen?

Stefan Engel: Für eine eigenständige Kandidatur in der gewählten Form gab es keine Alternative, nachdem ein breites linkes Wahlbündnis unter Einbeziehung der sozialistischen Alternative gescheitert war. Die MLPD hat einen beeindruckenden Wahlkampf hingelegt, der zu einem Achtungserfolg führte.
Das Bundesergebnis der Zweitstimmen liegt um das 4,5-fache über dem Ergebnis bei der letzten flächendeckenden Teilnahme der MLPD an einer Bundestagswahl im Jahre 1994. Über 45.000 Stimmen wurden für die MLPD abgegeben. Diese Stimmen waren eine bewusste Entscheidung für die MLPD, ihr Programm und die sozialistische Alternative. Damit ist völlig klar, dass die MLPD entgegen allen Widrigkeiten bei diesem Wahlkampf ihren Einfluss trotz der massiven Wahlbehinderungen erheblich ausdehnen konnte.
Noch deutlicher wird das Ergebnis bei unseren 36 Direktkandidaten. Wir liegen hier bei allen Direktwahlkreisen noch einmal erheblich über den Zweitstimmen. Sie liegen vielfach noch einmal doppelt so hoch wie die Zweitstimmen. In dieser Persönlichkeitswahl relativiert sich das Hemmnis der 5-Prozent-Klausel!
Es ist überhaupt auffällig, dass unsere besten Wahlergebnisse diesmal in Ostdeutschland liegen. Das war 1994 noch völlig anders. In Ostdeutschland liegen die Wahlergebnisse für die MLPD im Durchschnitt doppelt bis dreimal so hoch wie in den westlichen Bundesländern. Das kennzeichnet dort eine fortschreitende Verschiebung des Kräfteverhältnisses zwischen der MLPD und der PDS. Dies gilt insbesondere in den Ländern, in denen die Massen bereits ihre Erfahrungen mit der Politik der PDS machen konnten.
In Westdeutschland dagegen ist die Hoffnung in die Linkspartei noch relativ groß, hier haben wir indirekt zu vielen Stimmen für die Linkspartei beigetragen. In Gelsenkirchen hat z.B. die Linkspartei - die als politischer Faktor hier real relativ schwach ist - ein weit über dem NRW-Durchschnitt liegendes Ergebnis mit fast 10.000 Stimmen. Ihr Gelsenkirchener Kandidat arbeitet eng und vorbehaltlos mit der MLPD zusammen, z.B. in der Montagsdemo oder im Hans-Sachs-Haus-Skandal. Durch die 5-Prozent-Klausel allerdings haben die Leute sehr stark taktisch gewählt und sich überlegt, dass ihre Stimme bei der Linkspartei besser aufgehoben sei.
Die MLPD hat zwar auch in Gelsenkirchen ihr Wahlergebnis gegenüber 1998 mehr als verdoppeln können, aber die Erwartungen der Genossen und auch von mir lagen doch höher. Unser Umfeld hat zweifellos vielfach die Linkspartei gewählt. Das folgte einerseits einer pragmatischen Einsschätzung, dass man nur so auf die Zusammensetzung des Bundestages Einfluss nehmen könne, da die MLPD nicht über die 5 Prozent kommen würde. Auf der anderen Seite ist das auch Ausdruck von Illusionen in die Linkspartei, dass sie eine wirkliche konsequente Oppositionspolitik verwirklichen wird. Nach der Art und Weise, wie die Linkspartei ihr Bündnis zustande gebracht und insbesondere die Kräfte des echten Sozialismus ausgebootet hat, sich eindeutig zur Verteidigung des Kapitalismus und des Kapitals erklärt hat, wird man erleben, dass dies letztlich auch den Kniefall vor den "Sachzwängen" des Kapitals bewirken und zu faulen Kompromissen mit den Herrschenden führen wird. Die MLPD wird als konsequente antikapitalistische Kraft, als sozialistische Alternative weiterarbeiten, die mit Kompetenz, Unbestechlichkeit und Entschlossenheit die Interessen der Massen gegenüber den herrschenden Monopolen und ihren Parteien verteidigt. Irgendwann werden das die Leute auch so sehen. Davon bin ich überzeugt.

Rote Fahne: Sicherlich muss man auch die unterschiedlichen Aspekte dieser Wahl noch genauer auswerten. Aber es ist doch schon auffällig, dass es in Westdeutschland in bestimmten Zentren schwieriger war, die Wahlergebnisse deutlich zu verbessern.

Stefan Engel: Es gibt zusätzlich zum Bewusstsein auch einen deutlichen Zusammenhang zwischen der Manipulation der Medien bei den Wahlen und den Wahlergebnissen. Insbesondere wenn neben der üblichen Zensur im Fernsehen und Rundfunk auch noch die örtlichen Medien völlig dicht machen, ist es für uns schwer, überhaupt die breiten Massen zu erreichen, geschweige denn von der Wahl der MLPD zu überzeugen. Auch das wird an Gelsenkirchen sehr deutlich. Hier haben wir einen hervorragenden Wahlkampf geführt. In den letzten 5 Wochen wurden 65 Stände durchgeführt, 70.000 Wahlzeitungen und 10.000 Stadtzeitungen verteilt, eine Kundgebung mit 500 Leuten, eine Openair-Diskussion durchgeführt usw usf. Trotzdem ist unser Wahlergebnis mit 624 Erststimmen doch relativ bescheiden. Das hat eindeutig etwas damit zu tun, dass uns die örtlichen Medien weitgehend totgeschwiegen haben. Die Buer'sche Zeitung hat während des ganzen Wahlkampfs kein einziges Wort über die MLPD verloren, und auch die WAZ weigerte sich, auch nur annähernd angemessen über den Wahlkampf der MLPD zu berichten. Eine Vorstellung des Kandidaten fand bis zum Schluss nicht statt. Das hängt natürlich zusätzlich mit der Situation in Gelsenkirchen zusammen, wo die Widersprüche zwischen der MLPD und den anderen Parteien sehr zugespitzt sind.
Unabhängig von den Wahlergebnissen ist der Einfluss der MLPD ist in den letzten Jahren um ein Vielfaches gestiegen. Das drückt sich nur zu einem geringen Teil im Wahlergebnis aus. Die Politik der relativen Isolierung kann zeitweilig noch greifen. Die Leute müssen ihre eigenen Erfahrungen machen. Wir dürfen die Menschen auch nicht überfordern. Bisher hat die Linkspartei noch nicht den Beweis antreten müssen, dass sie wirklich Repräsentantin der Interessen der breiten Massen und der Arbeiterklasse ist. Sie wird früher oder später in den Konflikt kommen, einerseits ihre Versprechungen an ihre Massenbasis zu befriedigen und andererseits ihre Denkweise der Akzeptanz der kapitalistischen "Sachzwänge" und damit ihre Rolle zur Aufrechterhaltung des Kapitalismus und der Verteidigung des Kapitals unter einen Hut zu bringen. In dieser Situation werden die Massen merken, dass die Linkspartei keine Alternative ist, um gegen die Ausbeutung und Unterdrückung in dieser Gesellschaft zu kämpfen.
Gleichzeitig haben in diesem Wahlkampf die Menschen hunderttausendfach von der MLPD gehört. Die sozialistische Alternative ist in den Köpfen vieler Menschen neu erwacht und deutlich mehr verankert, auch wenn sich viele noch nicht zu ihrer Wahl entscheiden können. Wir haben in den letzten Wochen Hunderttausende Einzelgespräche geführt, haben in einer hervorragenden Weise in kürzester Zeit 45.000 Unterschriften für die Wahlzulassung gesammelt und dabei auch unser Ziel erreicht, bundesweit und flächendeckend zu dieser Bundestagswahl anzutreten. Wir haben mit neuen Methoden einen sehr effektiven Wahlkampf gemacht und dabei viele Tausend Menschen als aktive Wahlkämpfer einbezogen. Das alles wird an den Massen nicht spurlos vorbei gehen und irgendwann werden die Leute aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen auf diese Erfahrungen mit der MLPD zurück kommen.
Ich möchte mich an dieser Stelle bei allen Helfern, Sympathisanten, Genossinnen und Genossen recht herzlich für ihren großen Einsatz für diesen Wahlkampf bedanken. Es hat sich auf jeden Fall gelohnt und es war eine wichtige Investition in die Zukunft. Viele Tausend Menschen sind erstmals mit der MLPD in Berührung gekommen. Mehrere hundert Menschen stehen gerade vor der Entscheidung, in die Partei oder in den REBELL, den Jugendverband der Partei, einzutreten und künftig eine organisierte Parteiarbeit mitzumachen. Das ist alles von strategischer Bedeutung. Im Hinblick auf den Parteiaufbau hat der Wahlkampf der MLPD hervorragende Ergebnisse erzielt. Wir müssen vor allem die mittelfristige Wirkung unserer Tätigkeit betrachten und den beschleunigten und erweiterten Parteiaufbau konsequent weiterführen. Während des Wahlkampfes haben wir die organisierte Parteiarbeit auf 345 Städte erweitert und sind damit auch auf neue Gebiete, Regionen und Betriebe vorgestoßen. Es kommt jetzt darauf, diese vielen neuen Menschen in der Partei zu organisieren, gefestigte Strukturen aufzubauen und von dieser erweiterten Grundlage aus die Massen systematisch bei ihren Erfahrungen mit dieser neuen politischen Situation zu begleiten. Es wird ohne Zweifel dazu kommen, dass die MLPD irgendwann zu ihrer Partei wird. Davon bin ich fest überzeugt.

Rote Fahne: Vielen Dank

 

 

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