Türkische Regierung spielt mit dem Feuer

aus Rote Fahne 42/2012

Am 15. Oktober haben türkische Kampfflugzeuge erneut ein ziviles Flugzeug zur Landung gezwungen, das auf dem Weg nach Syrien war. Die Maschine der privaten Linie „Air Armenia“ konnte nach einer
Durchsuchung auf dem Flughafen von Erzurum (Ostanatolien) nach Aleppo in Syrien weiterfliegen. Bereits vergangene Woche wurde ein syrisches Passagierflugzeug, das aus Moskau kam, zur Landung gezwungen. Nach türkischen Angaben seien auch Militärgüter an Bord gewesen.

Dieses provokative Vorgehen der türkischen Regierung ist begleitet von Schießereien mit Artillerie an der türkisch-syrischen Grenze und Verlegung von Luftwaffeneinheiten nach Diyarbakir im kurdischen Teil der Türkei. Die türkischen Panzertruppen an der syrischen Grenze wurden verstärkt. Die Militärkonzentration richtet sich nicht nur gegen Syrien, sondern vor allem gegen den anwachsenden Befreiungskampf des kurdischen Volkes, der sich mit Guerilla-Aktionen gegen die Angriffe des türkischen Militärs auf die kurdischen Dörfer und Städte richtet. Sie sollen auch einem eventuellen Zusammenschluss der um ihre Freiheit kämpfenden Kurden in der Türkei, Syrien, dem Irak und Iran entgegenwirken.

Seit Juli eskalieren die Kämpfe zwischen der türkischen Armee und den kurdischen Freiheitskämpfern mit der kurdischen Arbeiterpartei PKK. Es sind die schwersten Kämpfe seit den 1990er Jahren. Weite Teile des türkisch-irakischen Grenzgebietes sind unter ihrer Kontrolle. Auf beiden Seiten gehen die Todeszahlen in die Hunderte. Die Artillerieangriffe auf syrisches Gebiet durch die türkische Armee trifft die dort lebenden syrischen Kurden und die von ihnen gebildeten „Volksverteidigungseinheiten“ (YPG), die weite Teile des syrischen Grenzgebiets zur Türkei kontrollieren.

Nordkurdistan ist mit der Grenze zu Syrien, Irak und Iran militärstrategisch für die Beherrschung der Region bedeutsam, verfügt aber auch über große Erdöl- und Gasvorkommen. Nirgendwo ist das Erdöl so leicht zugänglich wie im Nordirak an der türkischen Grenze. Bis zu 45 Milliarden Barrel Öl und 1.500 Milliarden Kubikmeter Erdgas sollen nach Schätzungen direkt unter der Oberfläche liegen. Bei der letzten Tagung der Nato-Verteidigungsminister wurde die türkische Regierung regelrecht ermuntert, gegen die Kurden vorzugehen. Generalsekretär Rasmussen sagte, die Nato habe Pläne erstellt, um die Türkei zu beschützen und zu verteidigen, hoffe aber nicht, diese verwirklichen zu müssen. Die Türkei dürfe sich nach dem Völkerrecht gegen Angriffe aus Syrien verteidigen.

Es ist allerdings nicht erwiesen, dass der Granatbeschuss aus Syrien gegen die Türkei gerichtet war, es können auch fehlgeleitete Geschosse aus Gefechten der syrischen Armee mit der kurdischen YPG gewesen sein. Die Türkei ist mit über 720.000 Soldaten zweitstärkste Militärmacht der Nato, hat über die US-Air-Force Zugang zu in der Türkei gelagerten Atomwaffen. Neben Israel ist die Türkei wichtigster Garant der Bestrebungen der Nato-Imperialisten, den Nahen und Mittleren Osten unter ihrer Kontrolle zu behalten und eine Ausweitung des Einflusses der konkurrierenden Imperialisten China und Russland aufzuhalten.

Die Türkei grenzt auch an die ehemaligen Sowjetrepubliken Aserbaidschan und Georgien, gegenüber denen sie einen Hegemonieanspruch erhebt. Russland und China unterstützen offen das syrische Regime und den Iran. Nach dem Öl-Embargo hat die EU am 15. 10. 12 weitere Sanktionen gegen den Iran verhängt, um das Land wirtschaftlich in die Knie zu zwingen. Erdgas aus dem Iran darf nicht mehr importiert
werden, der Geldverkehr wird erschwert und Exporte bestimmter Metalle sind verboten, Gleiches gilt für Software für die Schiffsindustrie. Europäische Firmen dürfen auch keine Öltanker mehr an den Iran liefern oder verleihen, EU-Regierungen keine kurzfristigen Exportkredite mehr erteilen.

Der Vorwand für diesen Wirtschaftskrieg gegen den Iran ist das angebliche Atomprogramm des faschistischen Regimes, das mit der Androhung einer Ölkatastrophe reagiert hat. Die Sanktionen der EU treffen in erster Linie die Masse der Bevölkerung im Iran. Vor dem Hintergrund einer erneuten Vertiefung der anhaltenden Weltwirtschaftskrise verschärft sich die Rivalität der Imperialisten um die Beherrschung des Nahen und
Mittleren Ostens. Die militärischen Provokationen der türkischen Regierung sind ein gefährliches Spiel mit dem Feuer, das durchaus unkontrolliert eskalieren kann.

Der mutige Kampf der Massen von Westkurdistan im Norden Syriens

Interview mit Yilmaz Kaba, Mitglied im Vorstand der YEK-KOM (Föderation der kurdischen Vereine in Deutschland e.V. )

aus Rote Fahne 50/2012


Kannst du uns etwas zur aktuellen Lage in Syrien und zur Rolle der kurdischen Bevölkerung dort sagen?

Letzteres wird in der Weltöffentlichkeit weitgehend verschwiegen. In Syrien tobt gegenwärtig ein blutiger Bürgerkrieg. Jeden Tag erscheinen Meldungen von bewaffneten Auseinandersetzungen und Massakern in den
Medien. Doch in Syrien findet gegenwärtig auch eine revolutionäre Entwicklung statt. Darüber wird in den Medien geschwiegen. Im Norden von Syrien entlang der syrisch-türkischen Grenze liegt Westkurdistan. Dort haben sich die Menschen erhoben und eine, wie wir sagen, Autonome Demokratie erkämpft. Ich muss für die Leser zur Information einiges vorausschicken:

In Syrien und Westkurdistan leben rund 3,5 bis 4 Millionen Menschen. Der größte Teil von ihnen lebt in den westkurdischen Städten wie Qamislo, Kobanî, Efrîn, Amudê oder Dêrik. Andere Kurden mussten in der Vergangenheit ihre Heimat verlassen und leben heute in syrischen Großstädten. In Aleppo gibt es ein kurdisches Viertel mit 600.000 Menschen. In der Hauptstadt Damaskus leben rund 500.000 Kurden. Sie wurden von dem herrschenden Assad-Regime unterdrückt und ihrer Rechte auf Selbstbestimmung beraubt. Sogar ihre Sprache war verboten. Mit dem Beginn der Aufstände im März 2011 haben sich auch die Kurden in Syrien erhoben. In Westkurdistan haben sie die dortige Staatsmacht verjagt und eigene Volksräte errichtet. Diese gibt es heute noch.

Kannst du uns sagen, warum sich diese demokratisch autonomen Strukturen gehalten haben?
Es war eine Erhebung des ganzen Volkes. Es gab keine Reibereien zwischen den verschiedenen angestammten Religionsgemeinschaften: Sie machen keinen Unterschied, ob einer Ezide, Moslem, Alawit, Christ oder Atheist ist. Sie haben die Gunst der Situation genutzt und die Militärstützpunkte der syrischen Armee eingenommen. Diese hatte kei ne Gegenwehr gewagt. Ein Teil der Soldaten ist abgehauen, manche sind wieder zurückgekommen und haben sich dem kurdischen Befreiungskampf angeschlossen. Inzwischen haben sich die Menschen gut organisiert. Die Volksräte wurden auf allen Ebenen gewählt, den Dörfern, Städten und Provinzen. Sie sind die politische Vertretung der Massen. Eine besondere Rolle spielen die Frauen, sie organisieren das gesamte öffentliche Leben. Und natürlich die Jugend, die nennen wir „Motor der Revolution“. In den Volksräten zählt nicht die Herkunft und der Bildungsgrad, den einer mitbringt. Jeder wird dort an seiner Leistung gemessen, was er für die Gemeinschaft einbringt.

Es gibt die bewaffneten Volksverteidigungseinheiten, genannt YPG. Deren Aufgabe ist der Schutz der Bevölkerung. Man muss wissen, dass die reaktionären Kräfte der „Syrischen Befreiungsarmee“ derzeit versuchen, das ganze Land zu destabilisieren, um der Türkei und der Nato den Boden und Vorwände für das Eingreifen in Syrien zu schaffen. Unter dem Schutz der YPG und Volksräte sind rund 10.000 Flüchtlinge nach Westkurdistan gekommen. Da wurde keiner abgewiesen, wenn er nicht bewaffnet war.

Du hast von der besonderen Rolle der Frauen gesprochen. Das ist bestimmt keine Selbstverständlichkeit.
Nein, denn die Frauen waren besonders unterdrückt. Jetzt blühen sie am meisten auf. Die Frauen organisieren sich im Zuge dieser Revolution. In den Städten am meisten, aber inzwischen auch auf dem Land begrüßen es die Bauern, wenn ihre Töchter bei den Volksräten oder in den Selbstverteidigungseinheiten YPG mitmachen. Sie bauen Frauenzentren in den befreiten Städten auf. Die Organisation der kurdischen Frauen heißt „Rojavayê Kurdistanê Yekitiya Star“ – zu Deutsch „Westkurdischer Verband Star“. Star ist in der kurdischen Mythologie der Name der ersten Göttin und bedeutet im heutigen Sprachgebrauch auch Stern. Zu ihren
Aufgaben gehört es auch, traditionelle Gewohnheiten überwinden zu helfen, sie schützen auch Frauen, die von ihren Männern bedroht werden und gehen dagegen vor.

Welche nächsten Ziele hat der Kampf der Massen in Westkurdistan?

Wir wollen keinen eigenen Staat, sondern künftig in einem Staat leben, in dem alle Nationen und Religionen gleichbeechtigt sind. Wir brauchen die Solidarität und enge Kampfgemeinschaft mit allen fortschrittlichen und demokratischen Kräften in und außerhalb des Landes. Wenn wir in den Dialog treten, dann haben wir zwei Grundbedingungen als Maßstab. Erstens, wie stehen sie zur Befreiung der Frau? Das ist für uns identisch mit Demokratie! Und wir verlangen, dass die kurdische Frage nicht eine untergeordnete ist, wie das bisher immer behandelt wurde, sondern eine gleichberechtigte Frage des Selbstbestimmungsrechtes aller Völker.

Welche Rolle spielt die Türkei?
Die Haltung der Türkei ist nicht akzeptabel. Sie ist überhaupt nicht militärisch bedroht. Sie fördern aggressive Dshihadisten und reaktionäre Rebellen. Das verurteilen wir. Die Türkei muss sich zurückziehen und ihre provokative Politik aufgeben. Wir verurteilen auch, wenn die deutsche Regierung der Türkei militärische „Hilfe“ anbietet. Das wird schwerwiegende Rückwirkungen auf das soziale Leben in Deutschland selbst haben, denn hier leben viele Menschen kurdischer, türkischer usw. Abstammung. Es muss Schluss sein mit jeder verbrecherischen Einmischung von außen.

Dafür werden wir uns hier in Deutschland einsetzen. Viel Erfolg in eurem Kampf und vielen Dank für das Interview.

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