Leseprobe: Die Horbachs - Meine Eltern, Kinder des Volkes
Meine Eltern, Kinder des Volkes
Meine Mutter: Von einer Christin zur Sozialdemokratin
Ich muß zuerst von meiner Mutter sprechen. Emma Rödelbronn war ein lebensfroher Mensch. Schon als Kind hatte sie sich hohe Ziele gesteckt.
Mit Vorliebe erzählte sie, wie gern sie im Freien spielte, wenn der Wind so recht aus vollen Backen blies. Dann ging sie auf den kleinen Hügel hinter dem Haus, band ihre Kittelschürze verkehrt herum um, faßte beide unteren Enden der Schürze und wartete auf den richtigen Windstoß. Sobald der ihre Schürze blähte, ging es in hohen Sprüngen abwärts, die Kraft des Windes nutzend. Wenn ihre Mutter sie fragte: »Was machst du da?«, antwortete sie: »Mama, ich will fliegen.«
Ein fröhliches Arbeiterkind
Trotzdem stand sie immer mit beiden Beinen fest auf der Erde. Dafür sorgten schon die täglichen Sorgen, die im Hause herrschten und die die Kinder mittragen mußten. Die sieben Geschwister hatten schon früh für den Lebensunterhalt mit zu sorgen.
Bevor Emma in die Schule ging, ging sie zu einem Schreibwarenhändler und wusch das Geschirr ab. In der
großen Schulpause, wenn die anderen Kinder spielten, rannte sie wieder dorthin und erledigte irgendeine andere Arbeit. Dafür bekam sie ihr Frühstücksbrot und die Schulhefte.
Ihre Schwestern, meine Tanten Anna und Berta, hatten auf ähnliche Weise für ihr Frühstück zu sorgen. Der ältere Bruder, mein Onkel Gustav, belieferte die Zweigläden des Apothekers in den Nachbarorten. Der Knirps trug zu diesem Zweck eine Kiepe auf dem Rücken. Dafür durfte er unter anderem die abgeschnittenen Brotkrusten der Apothekerfamilie essen. »Gustav ist unser Krustenfresser«, so wurde er einmal von der Dame des Hauses ihrem Kaffeekränzchen vorgestellt.
Auf dem Dorfe wurde früher nur Plattdeutsch gesprochen. Das brachte in der Schule oft Probleme mit sich, denn dort wurde Hochdeutsch verlangt. So geschah eines Tages in der Gesangsstunde folgendes: Weil Mutter ein fröhliches Kind war, hat sie auch immer aus voller Brust gesungen. Der I.ehrer spielte auf der Geige, und die Kinder sangen dazu.
Plötzlich hieb ihre Platznachbarin ihr einen kräftigen Stoß mit dem Ellbogen in die Seite. Die Reaktion der Mutter blieb nicht aus. Sie schlug zurück. Und schon kam der Lehrer mit erhobener Hand wütend auf die beiden zu. Mutter, ihren Kopf mit den Händen schützend, sagte: »Die Lehmann, die stoßte mir.« Und die andere sagte: »Die Rödelbronn, die sung so laut.« Der Lehrer ließ auf der Stelle seinen Arm sinken und kopfschüttelnd wiederholte er: »Stoßte mir ... sung so laut..., Kinder,
Kinder, was für ein Deutsch« Er war entmachtet und strafte nicht.
Dieser Schulkameradin hat Mutter öfter an freien Nachmittagen geholfen, die Zeitung der gewerkschaftlich organisierten Bergarbeiter auszutragen. Mit ihr zusammen hat sie am Wegesrand sitzend die Forderungen der streikenden Bergarbeiter buchstabiert.
Die Bergarbeiter streikten unter anderem für die Errichtung einer Waschkaue auf der Zeche »Alte Hase« in Sprockhövel. Beide Kinder fanden, daß es eine gute Forderung war.
Damals kamen die Bergarbeiter nämlich noch alle so schwarz, wie sie aus der Grube kamen, nach Hause. Zu Hause mußten sie den Kohlenstaub von ihren Körpern waschen. Das war eine große Belastung für die ganze Familie. Das Wasser mußte meistens vom Brunnen oder von der Pumpe geholt, auf dem Ofen erhitzt und in eine große Bütt gegossen werden. In die einzige, geheizte Stube wurde diese Bütt gestellt. Die Kinder mußten die Stube verlassen, auch im Winter, damit der Vater sich waschen konnte. Darum streikten die Bergarbeiter für eine Waschkaue in der Zeche. Die Kinder erkannten sofort, daß so ein Streik eine gute Sache ist.
Wenn sich heute die jungen Menschen in den Betrieben nach Feierabend duschen, dann denken sie wahrscheinlich nicht daran, daß ihre Urgroßväter die sanitären Anlagen im Streik erkämpft haben.